Donnerstag, 5. Februar 2015

Lesefrüchte 1

Lesefrüchte: Über die sexuelle Befreiung und die Pille, die Abtreibung und die Euthanasie

aus: Houellebecq, Elementarteilchen

Am 14. Dezember 1967 nahm die Nationalversammlung [Frankreichs] in erster Lesung das von Neuwirth eingebrachte Gesetz zur Legalisierung der Empfängnisverhütung an; die Pille war von nun an rezeptfrei in allen Apotheken erhältlich, wenn sie auch noch nicht von der Krankenkasse bezahlt wurde. Von diesem Augenblick an wurde die sexuelle Befreiung , die bis dahin leitenden Angestellten, freiberuflich Tätigen und Künstlern- sowie gewissen Kleinunternehmern-vorbehalten war, breiten Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht. Es ist nicht uninteressant, daß diese sexuelle Befreiung manchmal als Traumvorstellung von einer Gemeinschaft dargestellt wurde, während es in sich in Wirklichkeit nur um eine weitere Etappe auf dem unaufhaltsamen Siegeszug des Individualismus handelte. Wie der scöne Begriff „Schutzgemeinschaft der Ehe“ andeutet, stellten das Ehepaar und die Familie die letzte Insel des Urkommunismus im Schoße der liberalen Gesellschaft dar.Die sexuelle Befreiung hatte die Zerstörung dieser letzten Gemeinschaftsformen zur Folge, der letzten Zwischenstufen, die das Individuum vom Markt trennen. Dieser Zerstörungsprozeß hält bis zum heutigen Tage an.“

Houellebecq, Elementarteilchen,8.Auflage, 2003, S.129f.

[...]und am 11. [Juli 1974] das Gesetz, das die Scheidung mit gegenseitigem Einverständnis ermöglichte und den Ehebruch aus dem Strafgesetzbuch verschwinden ließ, Und am 28. November wurde nac einer hitzigen Debatte, die von den meisten Kommentatoren als „historisch“bezeichnet wurde, mit Unterstützung der Linken das von Simone Veil eingebrachte Gesetz verabschiedet, das die Abtreibung legalisierte.

Die christliche Anthropologie, die in den westlichen Ländern lange vorherrschte, räumte tatsächlich allem menschlichen Leben von der Zeugung bis zum Tode eine uneingescränkte Bedeutung ein; diese Bedeutung hängt mit der Tatsache zusammen, daß die Christen an die Existenz einer Seele im Innersten des menschlichen Körpers glaubten-einer prinzipiell unsterblichen Seele, die dazu bestimmt war, später mit Gott vereint zu werden. Unter dem Druck des Fortschritts innerhalb der Biologie sollte sich im 19. und 20. Jahrhundert allmählich eine materialistische Anthropologie entwickeln, die von völlig anderen Voraussetzungen ausging und in ihren ethischen Empfehlungen weitaus bescheidener war. Zum einen wurde der Fötus, jener kleinen Anhäufung von Zellen in fortschreitendem Differenzierungsprozeß, nur noch unter der Voraussetzung eines gewissen gesellschaftlichen Konsens (keine erbliche Belastung, die zu Mißbildungen führt, Einwilligung der Eltern) eine individuelle autonome Existenz zuerkannt. Zum anderen konnte der Greis, jene Anhäufung von Organen in fortschreitendem Auflösungsprozeß, nur noch dann das Recht auf Überleben für sic in Anspruch nehmen, wenn seine organischen Funktionen ein Minimum an Koordination aufwiesen-Einführung des Begriffs der menschlicen Würde. Die ethischen Probleme, die in dieser Form die beiden entgegengesetzten Pole des Lebens (Abtreibung; und einige Jahrzehnte später dann die Euthanasie) stellten, sollten von da an zu unüberwindlichen Gegensätzen zwischen zwei Weltanschauungen, zu zwei völlig antagonistisen Anthropologien, führen.“


Houellebecq, Elemetartilchen, S. 78f.

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