Montag, 30. Oktober 2017

Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.

Nietzsche verdanken wir den Aphorismus:"Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpre-tationen".  Versuchen wir einmal, ein paar Interpretationsprobleme des "Schimmelreiters" von Theodor Storm damit zu erhellen. Im Zentrum der Novelle steht eben auch ein Pferd, ein Schimmel. Das könnte man als Nebensächlichkeit ansehen, handelt die Novelle doch primär vom Deichgrafen, der zwar einen Schimmel ritt, der aber einen neuen Deich bauen ließ gemäß modernen Erkenntnissen wider den Willen der dortigen Anwohner und der dann samt Frau und Kind bei einer Sturmflut zu Tode kommt.
Aber die Gestalt des Schimmels könnte den Leser in das Zentralanliegen dieser Novelle hineinführen, in die Auseinandersetzung von einem modernen Weltbild und einem abergläubischen. So sagt der fiktive Erzähler der Geschichte vom Schimmelreiter ja:" Nun freilich", [...]"will ich gern zu Willen sein; aber es ist viel Aberglaube dazwischen; und eine Kunst, es ohne diesen zu erzählen." Theodor Storm, Der Schimmelreiter, Bibliothek der Erstausgaben, S.15. So kann diese Aussage gedeutet werden: es gibt die Welt der Tatsachen und die Welt der Interpretationen und eine mögliche Art des Interpretierens der Tatsachen ist die abergläubische. Warum kann man dann diese zwei Welten nicht von einander trennen? Was meint hier die Aussage, daß es eine Kunst wäre, diese Trennung zu vollziehen? Vielleicht, daß damit etwas Künstliches unternommen würde, was dem zu Erzählendem nicht gemäß wäre?   
Aber der Adressat der darauf folgenden Erzählung vom Schimmelreiter respondiert und weist damit auch dem zukünftigen Leser die rechte Haltung des Lesens zu: " Ich muß euch bitten, den nicht auszulassen",[...]traut mir nur zu, daß ich schon selbst die Spreu vom Weizen sondern werde."(S.15)
Der Beitzer des Schimmels erzählt seiner Frau so eine Merkwürdigkeit des Ankaufes dieses Schimmels. Er hatte zufällig auf einer Reise den Besitzer des Pferdes mit dem Schimmel getroffen. Obzwar das Pferd sich in einem sehr verwahrlosten, erbärmlichen Zustand befand  kaufte der Deichgraf das Pferd. Dazu sagte er abschließend:"Wunderlich nur war es, als ich mit den Pferden wegritt, hört`ich bald hinter mir ein Lachen, und als ich den Kopf wandte, sah ich den Slovaken[den Verkäufer des Schimmels ]; der stand noch sperrbeinig, die Arme auf den Rücken, und lachte wie ein Teufel hinter mir darein." (S. 95)
War das nun ein einfacher Roßkauf oder eine heimtückische Falle, durch die der Deichgraf zu einem sehr zweifelhaftem Reittier kam? Ist der Pferdeankauf einfach eine Tatsache und ist es nur eine Interpretation, daß hier der Teufel seine Hand im Spiel hat? Oder ist nicht auch die Aussage,es handle sich hier um ein einfaches Verkaufsgeschäft auch nur eine Interpretation. Das eine mal wird das Ereignis in einen religiösen Rahmen gestellt und von daher gedeutet, daß hier der Teufel zum Schaden des Deichgrafen gewirkt habe, das andere mal wird es in den Vorstellungsraum der Ökonomie gestellt und als bloßer Verkauf gedeutet. 
Gibt nun die Novelle im Ganzen uns Leser einen Aufschluß darüber, wie dies Ereignis zu deuten ist? Die fiktive Person, der die Geschichte vom  Schimmelreiter erzählt wird, erzählt selbst, was er erlebt hat und das ist dann der Ausgangspunkt des Erzählens vom Schimmelreiter:
"glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flattere um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an." (S.11). Der fiktive Erzähler identifiziert nun diese Erscheinung mit dem längst toten Deichgrafen mit seinem Schimmel. Erst jetzt beginnt die Erzählung, in der Tatsächliches mit Abergläubischem vermengelt wird. Dies Ereignis findet außerhab dieser Erzählung statt.Die Hörer dieser Begegnungsgeschichte erschrecken, denn für sie kündet diese Erscheinung ein Unglück an. (S63f)
Jetzt wird die Geschichte vom Pferde noch verworrener. Der fiktive Erzähler weiß  Auf einer Hallig konnte man gelegentlich Folgendes sehen:" Ein paar weißbleiche Knochengerüste ertrnkener Schafe und das Gerippe eines Pferdes, von dem freilich Niemand begriff, wie es dort hingekommen sei". (S. 86) Statt des Pferdegerippes sah man aber manchmal ein lebendiges Tier da:
"ich weiß nicht, in welchen Nächten, sollen die Knochen sich erheben und thun, als ob sie lebedig wären!" (S.88). Diese da lebedig werdende Pferdegerippe wird nun abergläubig mit dem Schimmel des Deichgrafen idetifiziert: Den reitet nun der Deichgraf.Werden hier nun Zusammenhänge gesehen, wo es keine gibt?  Oder sieht das abergläubige Auge hier das, was dem modernen Auge nicht sehbar ist. Die Novelle gibt dafür keine Antwort, sie streut nur Spuren aus, die so oder so gedeutet werden können. Das wahre Ereignis, die Tatsachen verschwinden uns in den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten.
Das ist wohl das, was das literarische Niveau dieser Novelle ausmacht, daß der Text in  sich polyinterpretabel ist, daß es eben nicht, wie im Regelfall eines Kriminalromanes zum Schluß eine Aufklärung gibt: Der war der Täter und so hat er es getan.

Was hat dies nun aber mit der Religion zu tuen, der christlichen insbesondere? Ich würde urteilen, daß wir uns hier im Vorraum des Religiösen befinden.Es wird uns hier eine Welt vor Augen geführt, in der mitten in ihr mit Übernatürlichem gerechnet wird. Die Welt, in der wir leben, ist keine in sich abgeschlossene, in der Alles, was in ihr sich ereignet,weltimmanent erklärbar ist. Es gibt in ihr Jensseitiges, Übernatürliches. Das ist die Grundlage jeder Religion, es ist noch nicht selbst eine religiöse Welt, aber eine, die offen ist für die Entstehung von Religion. Das könnte man dann als das "Abergläubische" bezeichnen, wenn dieser Begriff nicht so negativ besetzt wäre. Es ist nicht so eindeutig, daß man es erkennen kann als "Tatsache", aber man kann es glauben. Wenn man dann noch den Verdacht erwägt, daß das, was uns Tatsachen sind, auch nur wieder Interpretamente sind, dann wird all dies zu einem Raum. in dem wir nur noch glauben können, daß das oder dies für uns eine Tatsache ist.                

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