Dienstag, 6. November 2018

Irritationen: Die "Realität" als Flucht vor dem "Realen"?

Slavoj Zizek zu lesen, gleicht immer auch einem "Abenteuerurlaub" des Denkens. So unsere gewöhnliche Vorstellung völlig Irritierendes findet sich in seinen Texten: "Was, wenn dasjenige, was wir als >Realität<erfahren, durch Phantsie strukturiert wäre und wenn die Phantasie als Schirm diente,der uns vor der direkten Überwältigung durch das rohe Reale beschützen würde? Dann kann die Realität selbst als Flucht vor der Begegnung mit dem Realen dienen." ( Slavoj Zizek, Lacan.Eine Einführung, 2008,S.79).
Faszinierende Konsequenzen werden aus dieser These gezogen: "In dem Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit befindet sich die Phantasie auf der Seite der Wirklichkeit, und in unseren Träumen begegnen wir dem traumatischen Realen- es ist nicht so, daß Träume für diejenigen sind, die die Realität nicht ertragen, die Realität selbst ist für diejenigen, die ihre Träume (das Reale,das sich in ihnen ankündigt)nicht aushalten können." (S.79f)
Daß das, was uns als Wirklichkeit vorkommt, eine soziale Konstruktion ist, ist eine der Zentralthesen der Philosophie des Konstruktivismus. Weil nicht jedes Individuum sich seine eigene "Lebenswelt" schafft, sodaß niemand mit einem anderen kommunizieren könnte, sondern die "Lebenswelt" als sozial konstruierte begriffen wird, kann a) die Objektivität unserer Wahrnehmung so verstanden werden als daß Alle das zu sehen und b) kann festgehalten werden, daß diese Wahrnehmung eine sozial gebildete, produzierte ist, daß wir eben als erfolgreich Sozialisierte so sehen, wie es von uns erlernt worden ist. Zizek erfaßt nun aber auch den Grund, warum wir so uns eine Reaität schaffen, in der wir leben können: Das  Reale sei für uns so unerträglich, daß wir statt in ihm in einer Kunstwelt leben. Zur Veranschaulichung- versimplifiziert: Man denke an einen Eskimo, der in seinem Iglu   des Nachts schläft, um sich nicht der tötlichen Kälte außerhalb des künstlichen Wohnraumes auszusetzen. Der Verdacht lautet dann einfach, daß unsere Wirklichkeit einem Iglu gleicht, daß uns vor dem Realen bewahrt.
Verweist uns H.P. Lovecraft nicht auf eine ähnliche Spur:

Die größte Gnade auf dieser Welt ist, so scheint es mir, das Nichtvermögen des menschlichen Geistes, all ihre inneren Geschehnisse miteinander in Verbindung zu bringen. Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Unwissens inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt, diese zu bereisen. Die Wissenschaften - deren jede in eine eigene Richtung zielt - haben uns bis jetzt wenig bekümmert: aber eines Tages wird das Zusammenfügen der einzelnen Erkenntnisse so erschreckende Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, daß wir durch diese Enthüllung entweder dem Wahnsinn verfallen oder aus dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters fliehen werden.1

1Lovecraft H.P., Cthulhus Ruf. In: Lovecraft, H.P., Cthulhu Geistergeschichten, Deutsch von H.C. Artmann, 1972, S. 193.

Ist dies neue dunkle Zeitalter das, was Zizek die "Realität" nennt, um das Reale zu verbergen? Könnte eventuell die moderne Welt, fußend auf der Aufklärung nicht genau eine solche "Realität" sein, die uns vor dem, was wirklich das Reale ist, schützt, indem es es verbirgt. Ist Kants These von der Unerkennbarkeit des "Dinges an sich"  nur ein anderer Ausdruck für das Zumverschwindenbringen des Realen durch unser modernes Denken, das wir einfach zur Legitimierung als das vernünftige ausgeben? Dann könnte das Reale das sein, was Rudolf Otto so treffend als die Einheit des tremendum und faszinosum, als Mysterium bezeichnete, das Göttliche als Urgund und Realität in unter und zwischen unserer Welt, das unsere realistische Weltsicht ausblendet? Ist nicht auch das Gottesbild der nachonziliaren Theologie eines, was das ausstreicht, was Gott real ist, um uns einen harmlosen: "Ich -hab -euch- alle- lieb- Gott vor Augen zu malen? 


  

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