Mittwoch, 16. März 2016

Lesefrüchte : Kein Nachwuchs- sterben wir aus?

"Er glaubte ernstlich, es sei weniger unrecht, einen Menschen zu töten als ein Kind zu zeugen: dem ersteren nimmt man nur das Leben, aber nicht das ganze Leben, sondern die Hälfte oder ein Viertel oder de hundersten Teil dieses Daseins, das zu Ende gehen würde; aber bist du letzterem,so sagte er, nicht verantwortlich für alle Tränen, die es von der Wiege bis zum Grabe vergießen wird? Ohne dich wäre es nicht geboren, und warum wird es geboren? Weil es dir so gefällt, aber nicht, weil es ihm so gefällt, das ist sicher." Gustave Flaubert, November, in: G. Flaubert, Drei Erzählungen,hrsg: Christa Bevernis, 1979, S.306. Zwei Motive werden hier gegen den Wunsch zum eigenen Kind aufgeführt: daß das Leben sich nicht lohnt (das ist das Thema dieser Erzählung des romantischen Protestes gegen die Tristesse des bürgerlichen Lebens) und ein freiheitstheoretisches: es sei moralisch nicht vertretbar, jemandem das Leben zu geben, der dies nicht selbst wolle. Dem Ideal des Selbstbestimmungsechtes widerspräche es, ohne seine Einwilligung gezeugt und geboren zu werden. Fortpfanzug sei so ein Unrecht! 
Geben wir dem Icherzähler noch einmal das Wort: "Ich bin geboren mit dem Wunsche zu sterben. Nichts schien mir törichter als das Leben und nichts schmachvoller, als daran zu hängen. Wie die meisten Menschen meiner Zeit ohne Religion aufgewachsen, kannte ich doch nicht das kalte Glück der Atheisten oder die ironische Unbekümmertheit der Skeptiker." (S.231) Die Moderne ist eben nicht einfach die aufklärerische Überwindung der Religion hin zum großen Projekt der Humanisierung der Welt, daß der Mensch nun erst anfange, würdig zu leben. Goethes junger Werther und der Protagonist der Novembererzählung manifestieren eben auch den romantischen Protest gegen ein säkularisiertes als so sinnlos empfundenes Leben, das seinen Tod verdient hat im Sterben beider Protagonisten. Goethe läßt seinen Werther sagen, und dem hätte der Protagonist der Novembererzählung wohl zugestimmt: "Wenn Du fragst, wie die Leute hier sind? muß ich Dir sagen: wie überall! Es ist ein einförmig Ding um´s Menschengeschlecht. Die meisten vearbeiten den grösten Theil der Zeit, um zu leben, und das Bisgen, das ihnen von Freyheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um´s los zu werden. O Bestimmung des Menschen.
Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, (Bibliothek der Erstausgaben, 1997, S.14f) Ohne Religion kann dem Menschen, gerade dem feinfühligen und nachdenklichen das Leben so kalt werden, daß ihm das Nichtsein erstrebenswerter erscheint als ein Weiter so! Es ist zu fragen, ob das Faktum, daß in Westeuropa nur noch so wenige Kinder geboren werden, sodaß unser Aussterben keinesfalls eine überspannte Negativphantasie ist, eben nicht nur auf dem Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie beruht, daß Frauen um des Gelderwerbes willen auf eigene Kinder verzichten. Ist seit Gott ist tot! unser Leben uns zu kalt geworden, um es mit Nietzsche zu sagen, als daß wir es noch als fortpflanzungswürdig ansähen?  Geben wir so Nietzsche das Wort über die Folgen des Todes Gottes:
"Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? "  Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, Aphorismus 125 „Der tolle Mensch“ (KSA 3, S. 480 ff.).
Aber es bleibt dann noch die Anfrage aus der Novembererzählung: Darf man einem Menschen das Leben schenken, wenn der es nicht selbst als Geschenk möchte. Diese Anfrage ist nun aber selbst eine Aporie, denn damit der Mensch frei entscheiden  kann, ob er sein oder nicht sein will, muß er schon sein, um so frei entscheiden zu können. Erst durch die Zeugung und das Zur-Welt-Kommen kann ein Mensch als Freiheit Ja oder Nein zum eigenen Leben sagen. Aber somit taucht der Freitod nun doch noch in ein ganz anderes Licht: Es ist das Vermögen, das Geschenk des Lebens abzulehnen, wie es dann auch Goethes Werther prakiziert. Das entlastet aber die Eltern, so befremdlich es auch zuerst klingen muß, denn nun ist das Leben eine Gabe, zu der der so Beschenkte auch sein Nein sagen kann und so wird es erst zu dem seinigen, indem er Ja zu der Gabe sagt und so es zu seinem macht, gerade weil er es auch negieren könnte.
 In der Moderne raunt so subkutan eine Rede, die da sagt, daß es sich vielleicht gar nicht lohne, zu leben. Gelegentlich manifestiert sich diese Rede gar in der Hochliteratur, in Goethes Leiden des jungen Werther, aber auch in Flauberts Erzählungen und Romanen. st die demographische Katastrophe unseres Aussterbens auch ein Ausfluß dieser unheimlichen Rede des: Es lohnt sich nicht?         

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