Lesefrüchte:
Über die sexuelle Befreiung und die Pille, die Abtreibung und die
Euthanasie
aus:
Houellebecq, Elementarteilchen
„ Am
14. Dezember 1967 nahm die Nationalversammlung [Frankreichs]
in erster Lesung das von
Neuwirth eingebrachte Gesetz zur Legalisierung der Empfängnisverhütung
an; die Pille war von nun an rezeptfrei in allen Apotheken erhältlich,
wenn sie auch noch nicht von der Krankenkasse bezahlt wurde. Von diesem
Augenblick an wurde die sexuelle
Befreiung ,
die bis dahin leitenden Angestellten, freiberuflich Tätigen und
Künstlern- sowie gewissen Kleinunternehmern-vorbehalten war, breiten
Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht. Es ist nicht uninteressant, daß
diese sexuelle
Befreiung manchmal
als Traumvorstellung von einer Gemeinschaft dargestellt wurde, während
es in sich in Wirklichkeit nur um eine weitere Etappe auf dem
unaufhaltsamen Siegeszug des Individualismus handelte. Wie der scöne
Begriff „Schutzgemeinschaft der Ehe“ andeutet, stellten das Ehepaar
und die Familie die letzte Insel des Urkommunismus im Schoße der
liberalen Gesellschaft dar.Die sexuelle Befreiung hatte die Zerstörung
dieser letzten Gemeinschaftsformen zur Folge, der letzten
Zwischenstufen, die das Individuum vom Markt trennen. Dieser
Zerstörungsprozeß hält bis zum heutigen Tage an.“
Houellebecq,
Elementarteilchen,8.Auflage, 2003, S.129f.
„[...]und
am 11. [Juli 1974] das Gesetz, das die Scheidung mit gegenseitigem Einverständnis ermöglichte
und den Ehebruch aus dem Strafgesetzbuch verschwinden ließ, Und am 28.
November wurde nac einer hitzigen Debatte, die von den meisten
Kommentatoren als „historisch“bezeichnet wurde, mit Unterstützung
der Linken das von Simone Veil eingebrachte Gesetz verabschiedet, das die Abtreibung legalisierte.
Die
christliche Anthropologie, die in den westlichen Ländern lange
vorherrschte, räumte tatsächlich allem menschlichen Leben von der
Zeugung bis zum Tode eine uneingescränkte Bedeutung ein; diese
Bedeutung hängt mit der Tatsache zusammen, daß die Christen an die
Existenz einer Seele im
Innersten des menschlichen Körpers glaubten-einer prinzipiell
unsterblichen Seele, die dazu bestimmt war, später mit Gott vereint
zu werden. Unter dem Druck des Fortschritts innerhalb der Biologie
sollte sich im 19. und 20. Jahrhundert allmählich eine materialistische
Anthropologie entwickeln,
die von völlig anderen Voraussetzungen ausging und in ihren ethischen
Empfehlungen weitaus bescheidener war. Zum einen wurde der Fötus,
jener kleinen Anhäufung von Zellen in fortschreitendem
Differenzierungsprozeß, nur noch unter der Voraussetzung eines gewissen gesellschaftlichen Konsens (keine erbliche Belastung, die zu
Mißbildungen führt, Einwilligung der Eltern) eine individuelle
autonome Existenz zuerkannt. Zum anderen konnte der Greis, jene
Anhäufung von Organen in fortschreitendem Auflösungsprozeß, nur noch dann das Recht auf Überleben für sic in Anspruch nehmen, wenn seine
organischen Funktionen ein Minimum an Koordination
aufwiesen-Einführung des Begriffs der menschlicen
Würde. Die
ethischen Probleme, die in dieser Form die beiden entgegengesetzten
Pole des Lebens (Abtreibung; und einige Jahrzehnte später dann die
Euthanasie) stellten, sollten von da an zu unüberwindlichen
Gegensätzen zwischen zwei Weltanschauungen, zu zwei völlig
antagonistisen Anthropologien, führen.“
Houellebecq,
Elemetartilchen, S. 78f.
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