"Außerdem denke ich wie du: man ist kein Mann, wenn man nichts gefunden hat, wofür man sterben könnte", sagt Mathieu zum Kommunisten Brunet. (Jean Paul Sartre, Zeit der Reife, übers: H.G. Brenner, 1982, S135. Ideologien, das sind Gedankensysteme, für die Männer als auch Frauen zu sterben und zu töten bereit sind. In Anlehnung an das freimaurerisch inspirierte Lied "Imagine" von John Lennon könnte jetzt geurteilt werden, daß nur ideologiefreie Zeiten Zeiten des Friedens sein können, daß so alle Ideologien von Übel seien. Das klingt gut, evozierte es nicht den Verdacht, daß dies Urteil selbst ein ideologisches ist!
Aber halten wir inne und fragen: Wie tief sind wir gefallen, wenn wir so daher reden? Denn Ideologie ist: die Lehre von den Ideen, also das philosophische Durchdenken der Frage, wie sich das Denken, die Produktion von Ideen und Begriffen zur Wirklichkeit verhält!Wer Ideologien so verurteilt, verurteilt eine Kerndisziplin des philosophischen Denkens, die Erkenntnistheorie!
Oder sollen wir nun sagen, daß wer heutzutage von Ideologien spricht, meint damit Weltanschauungen, wie etwa den Liberalismus, den Sozialismus und den Nationalismus usw. ? Nur, auch diese Weltanschauungen, wenn sie sich selbst durchdenken, enthalten eine Erkenntnistheorie und es verblüfft dann auch nicht, daß etwa dem Liberalismus eine andere Erkenntnistheorie zu Grunde liegt als dem Nationalismus! Der Liberalismus gehört in die philosophische Richtung des Nominalismus, der Nationalismus in die des Ideenrealismus.
Erinnern wir uns der Zeiten, als die marxistische Linke den inneruniversitären Diskurs in Deutschland bestimmte, da galt die Gleichsetzung von Ideologie mit falschem Bewußtsein, das im Kapitalismus diese Gesellschaft in den Menschen notwendig hervorbringe, und das nur durch eine marxistische Aufklärung und eine revolutionäre Praxis zu überwinden sei. (So Lenin in seinem Klassiker "Was tun?") Aber in der Sache läuft das eben nur daraufhin, alle bürgerlichen Weltanschauungen als Ideologien zu dysqualifizieren, um die einzige Wahrheit, den Marxismus-Leninismus zum Leuchten zu bringen.
Man könnte die These wagen, daß erst dort, wo die Religion ihre vorherrschende Stellung verloren hat, Weltanschauungen und Ideologien in Konkurrenz zur Religion an ihrer Stelle treten. Die Geburtsstunde aller bürgerlichen Weltanschauungen wäre somit das Ende des 30 jährigen Krieges gewesen, die einen Prozeß der Entkirchlichung Europas anfangen ließ, der dann auch zu einer Entchristlichung des einstig christlichen Abendlandes führte: Liberalismus, Conservatismus und Sozialismus wären so Surrogate für die Religion, wobei dann diese Weltanschauungen selbst ihr Verhältnis zur Religion in sich klären und ein positiveres (wie der Conservatismus) oder ein negativeres wie der Liberalismus und der Sozialismus aufweisen können.
Was wäre ein Mensch ohne eine Weltanschauung? Es könnte der religiöse Mensch sein, sofern man nicht die Religion selbst wiederum als eine besondere Art der Weltanschauung beurteilen möchte, nämlich der einer religiösen Weltanschauung! Oder sollten wir in Anlehnung an Nietzsches Gedanken vom kleingzüchteten letzten Menschen uns Menschen imaginieren, die auf das Abenteuer des Denkens verzichtend sich damit begnügen, lustvoll zu konsumieren, Menschen, die das Fragen nach dem Ganzen, dem ersten Grund und dem letzten Ziele völlig gleichgültig geworden sind? Sartre konfrontiert ja in "Zeit der Reife" den Suchenden Mathieu, der noch nichts gefunden hat, wofür es sich lohnte, daß er lebt, mit dem, der seine Weltanschauung gefunden hat, indem er sie als die seinige sich erwählte, den Kommunisten Brunet. Und außerhalb der Wahl, wenn man nicht wählt, da ist dann nur die bindunglose Freiheit eines gleichgültigen Lebens= Mathieu.
Es drängt sich so der Verdacht auf, daß dort, wo der Ideologielosigkeit das Wort geredet wird, uns nur eine andere Ideologie unter einem Tarnnamen versteckt "verkauft" werden soll mit der Werbung,ideologiefrei zu sein!
Sagen wir, vorbehaltlich besserer Einsicht, daß der Mensch, weil in der Welt lebend notwendigerweise eine Weltanschauung für sich hervorbringt, weil er nicht einfach in der natürlichen Welt leben kann, ohne sie für sich auszulegen und zu deuten und sie so erst für sich zu einer Heimat zu machen. Es bleibt nur die Frage: Welche Ideologie? Erstaunlicherweise urteilt der strukturalistische Marxist Louis Althusser ähnlich, wenn er sagt: "Die Ideologie (als System von Massenvorstellungen) ist in jeder Geselschaft unentbehrlich, um die Menschen zu bilden, sie zu verändern und in die Lage zu versetzen, den Anforderungen ihrer Existenz zu genügen." (zitiert nach: Saül Karsz, Theorie und Politik: Louis Althusser, 1976, S.203. Das ist eine klare Absage an die linke Utopie einer ideologiefreien Gesellschaft, der sozialistischen!
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