Samstag, 9. Oktober 2021

Ist das Christentum dazu da, die sozialen Probleme zu lösen?

Davila urteilt hart: „Dass das Christentum die sozialen Probleme nicht löst, ist nur für diejenigen Grund, abtrünnig zu werden, die vergessen,dass es niemals versprach, sie zu lösen.“ (Es genügt, dass die Schönheit unseren Überdruss streift...Aphorismen, 2017.S.114)

Diese Aussage muß irritieren: Ist denn nicht gerade die Nächstenliebe die Substanz der christlichen Religion und ist diese wiederum nicht das Lösungsmittel aller sozialen Probleme? Wird aber zurückgefragt, ob den Jesus Christus die Nächstenliebe gepredigt habe, damit durch ihre Praktizierung die Welt besser gemacht würde, entstehen noch größere Irritationen. Das von Jesus Christus verkündigte Reich Gottes ist nun wirklich nicht eine Sozialutopie und schon gar nicht ein Aufruf zu sozialpolitischen Reformen, um die Gesellschaft gerechter zu gestalten. Jesus lehrt uns stattdessen, wie jemand zu leben ist, damit er eingehen können wird in dies Reich Gottes. Bildlich formuliert: Die Welt gleicht einem untergehenden Schiff und nun gibt es ein Rettungsboot, wie einst die Arche zur Rettung aus der Sintflut, die Kirche, in der man das Weltende überleben kann, um dann in dies ewig jenseitige Reich eingehen zu können. Es ist so gesehen ein extrem individualistischer Ansatz, dem jede sozialpolitische Ausrichtung fremd ist.

Wenn dann noch berücksichtigt wird, daß die Nächstenliebe primär innerkirchlich gelebt wurde, was aber die Attraktivität der urchristlichen Kirche steigerte, ist es klar: Zu den ureigensten Anliegen gehört die Lösung der sozialen Probleme nicht.

Das konnte sich erst ändern, nachdem die Kirche faktisch zur Staatskirche wurde, die christliche Religion zu der öffentlichen des Römischen Reiches avancierte. Da erst wurde die Gesamtgesellschaft zu einer Gestaltungs-aufgabe der Kirche. Nur das Gebot zur Nächstenliebe motiviert wohl dazu, die bedrängenden sozialen Probleme einer Gesellschaft zu lösen, aber der Primat des Individualistischen schränkt doch die Möglichkeiten sozialer Gestaltungsmöglichkeiten ein. Einfach nur die Herzen der Menschen zu bekehren, wie sehr dies auch um des Seelenheiles willen von Nöten ist, löst keine sozialen Probleme. Hier muß auch ein Christ Berthold Brechts: „Der gute Mensch von Sezuan“ recht geben. Der Privatversuch, gut zu leben, und so die Gesellschaft humaner werden zu lassen, scheitert an der Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ja nicht das Produkt des Wollens der Einzelmenschen ist und so auch nicht einfach durch bekehrte Herzen sozial werden. Erst der Sozialstaat und nicht die vielen mannigfachen christlichen Vereinigungen, die sich der Not der Mitmenschen annahmen, erbrachte effektive Verbesserungen für die Armen.

Der Sozialstaat kann nun sehr wohl als durch die christliche Religion fundiert angesehen werden, dafür spricht sicher in Deutschland Bismarck als Grundleger des Sozialstaates, aber man kann doch nicht urteilen, daß das Christentum selbst die Lösung der sozialen Probleme als seine Aufgabe ansah und praktizierte.Aber hier dürfte doch auch ein Fragezeichen gesetzt werden. Cooperieren denn nicht jetzt christliche Organisationen mit staatlichen, um in Deutschland aber auch weltweit soziale Probleme zu lösen? Was leistet allein die Caritas? Und doch evoziert dies auch wiederum Bedenken: Ist die Diakonie der Katholischen Kirche nicht inzwischen so weit säkularisiert, daß sie kaum noch als eine christliche wahrgenommen wird?Führte etwa der Wille zur Gestaltung der Gesellschaft aus dem Geiste der christlichen Nächstenliebe zu einer Verweltlichung dieser christlichen Praxis, daß nun die Gesellschaft die Kirche umgestaltete und nicht die Kirche die Welt?

Davila muß zugestimmt werden, daß zwar das Gebot der Nächstenliebe ein Zentralanliegen der christlichen Religion ist, daß sie aber nie verheißen hat, dadurch die sozialen Probleme zu lösen.

Sie verheißt Gott als den eschatologischen Erlöser,aber nicht ein sozialpolitisches Reformprogramm.Vermutlich war diese politische Enthaltsamkeit des Urchristentumes dem jüdischen Volke ein Ärgernis: Es setzte zusehens, sich radicalisierend auf die Hoffnung der Befreiung von der Römischen Fremdherrschaft und dann auch auf eine Neugestaltung des sozialen Lebens. Jesus Christus selbst und die ersten Gemeinden distanzierten sich sehr deutlich von diesem national-revolutionären Programm- das Reich, das es verkündete, war ein rein jenseitiges nicht von dieser Welt. Darum kämpften sie auch nicht für dies mit Waffen. „Was trägt ihr bei zur Befreiung des Jüdischen Volkes, was ist euer praktischer Beitrag zur Sozialpolitik?“, diese Anfragen hat sicher die Urchristen manches mal in Verlegenheit gebracht, bis dann das völlige Scheitern des jüdischen Volkes ihnen nachträglich recht gab. Erst nach der Konstantinischen Wende übernahm dann die Kirche sozialpolitische Aufgaben- Kritiker sehen darin schon den Keim der Verweltlichung der Katholischen Kirche. Es kann aber auch gedeutet werden, daß nun erst das Gebot der Nächstenliebe zu einem sozialpolitischen Engagement führte als Dienst an den Armen.





 

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