Diese
Frage dürfte eine kleine Irriation hervorrufen, denn im Regelfalle
verstehe ich doch, was ich lese, ob ich nun an den Roman denke, den
ich gestern las, oder die von mir angeklickten Internetseiten oder
die eingegangene ePost. Ein kleines Experiment: Verstehst Du den
Satz: „Ich ging zur Bank“? Es kam stets die selbe
Antwort:
Ja, manchmal mit befremdlichen Unterton, warum denn so eine
simple Frage gestellt wurde. Aber die Nachfrage, habe der so
Gefragte dabei an eine Geld-Bank oder eine Sitz-Bank gedacht,
verblüffte dann doch sehr: „Ich habe den Satz verstanden, weiß
aber nicht zu sagen, an welche Bank ich gedacht hatte, an die Geld-
oder an die Sitzbank!“ Aber es ist doch ein Riesenunterschied, ob
ich zu einer Sitz- oder zu einer Geldbank ging. Genau genommen ist
dieser Satz so nicht verstehbar und doch urteilten alle Befragten,
daß sie ihn verstanden hätten.
Verstehen
wir so, wie wir meinen, diesen Satz verstanden zu haben, auch viele
andere Aussagen, daß wir sie faktisch nicht verstehen, nur meinen,
sie zu verstehen? Wir leben in einer Medien- Text- und Bilder-Welt
mit vielen Aussagen, aber verstehen wir das Ausgesendete auch.
Nehmen wir eine weitere einfache Aussage: „München schieß t in
der 89. Minute das 1:o.“ Was muß ich alles wissen, um diese
einfache Aussage auch zu verstehen? Gewußt werden muß, daß mit
München der Fußballverein Bayern München gemeint ist, daß das 1:0
ein Ereignis in einem Fußballspiel meint, nämlich einen
erfolgreichen Torschuß, daß Fußball ein Gewinnspiel ist, in dem
der Sieg definiert ist mit, daß mindestens ein Tor mehr geschossen
sein muß als der Gegner erzielt, daß ein Fußballspiel 90 Minuten
dauert mit der Option einer Überspielzeit von in der Regel 1 bis 6
Minuten und es muß eine Vorstellung davon geben, wie viele Tore
durchschnittlich in einem Spiel geschossen werden, um einschätzen zu
können, wie wahrscheinlich es ist, daß Bayern dies Spiel noch
verlieren kann, daß die Mannschaft also nach der 89. Minute noch
mindestens 2 Tore kassiert.
Nun
gibt es Ereignisse in viel komplexer strukturierten Kontexten als ein
Fußballspiel. Das hat aber zur Folge, daß dann viel mehr gewußt
werden muß, um eine Einzelaussage über ein Teilereignis zu
verstehen. Der Äthioper, der gefragt wurde: Verstehst Du, was Du
liest? ,antwortete ehrlich: „Wie könnte ich, wenn mich niemand
anleitet?“ Apg 8, 30f . Der selbstbewußte moderne Mensch weißt
diese Antwort weit von sich, will er doch durch den eigenen Verstand
alles selbst verstehen und meint das auch zu können, denkt er nur
vernünftig. Aber wie könnte der Verstand, wenn er das Regelsystem
Fußball nicht kennt, die Aussage, München schoß in der 89. Minute
das 1:0 verstehen? Ist das Regelsystem, daß erst dieser Aussage
einen Sinn gibt, aus rein vernünftigem Denken deduzierbar? Könnte
aus der Analyse des Begriffes Ball das Regelsystem Fußball als
sachgemäßer Umgang mit dem Ball ableitbar sein? Wie sollen
dann aber Ausagen über Ereignisse in weit komplexer
Strrukturiertem verstehbar sein? In der Regel vermittelt ja die
postmoderne Medienwelt Einzelereignisaussagen, ohne daß der
Kontext, durch den das Ereignis erst seinen Sinn bekommt, selbst noch
vermittelt wird. Oder aber es werden ideologische Deutungen für das
Einzelereignis gegeben. So ist ein Deutscher, wenn er einen Ausländer
tötet, stets ein Rassist, ein Muslim, der einen Deutschen tötet,
stets ein psychisch Erkrankter. Bei deutschen Tätern ist die Tat
ideologisch motiviert, bei einem Muslim stets psychisch ohne einen
Bezug so dieser Religion.
Oder
es wird gar kein Deutungsmuster als Anleitung zum Verstehen der
Einzelnachricht angeboten, sodaß ein Meer von unverständlichen
Nachrichten entsteht, daß eben die Welt für uns Leser zu einem
völlig unverständlichem Gesamttext wird. Die absurde Welt entsteht
so. Aber ohne eine Weltanschauung können Einzelereignisse in der
Welt nicht begriffen werden, sie werden nur beschrieben
phänomelogisch. Aber in Folge des Nominalismus, der Meinung, nur das
Einzelne sei und alles andere Darüberhinausgehende, etwa eine
Familie, ein Volk, eine Rasse, die Menschheit nur Abstraktbegriffe,
die auf keine Realität verwiesen, kann es eigentlich keine
Weltanschauung mehr geben und die Religionen, die einst das
leisteten, was dann nach der Aufklärung die Weltanschauungen leisten
sollten, haben selbst ihre Glaubwürdigkeit verloren, daß sie nur
noch im Privatleben gebraucht werden, sodaß sogar die Kirchen die
christliche Religion in den öffentlichen Diskurs nicht mehr
einbringen, man redet dann nur noch weltlich, um in der Welt
verstanden zu werden.
Aber
ohne die große Erzählung der christlichen Religion von der Erlösung
des Menschen werden auch die Einzelaussagen und Praktiken der Kirche
unverständlich, sie verlieren ihre ureigenste Bedeutung. So ihres
Gehaltes beraubt, gleichen sie der Aussage: „Ich gehe zur Bank“,
sodaß nun der Leser die Freiheit bekommt, sie nach seinem Geschmacke
zu verstehen, so wenn etwa aus dem christlichen Bußfasten der Aufruf
wird, auf den Menschen Schädigendes zu verzichten, etwa zu rauchen
aufzuhören für eine befristete Zeit weningstens. Diese Umdeutung
des Fastens ist aber nur möglich, indem dies Tuen aus seinem ihm
zugehörigen Kontext herausgenommen wird, und damit es so
abstrahiert nicht zu etwas Sinnlosen wird, in einen anderen Kontext
neu integriert, etwa in den Gesundheitsdiskurs. Dieser Kontextwechsel
ändert dann den Sinn des Begriffes des Fasten. So ist es ja auch mit
dem Begriff der Bank. Lese ich: „Vom Wandern ermüdet, ging ich
zur Bank“, bekommt der Begriff der Bank seine Klarheit durch diese
Kontextualisierung durch den Begriff des Wanderns.Lese ich dagegen:
„Um die Einkäufe tätigen zu können, ging ich zur Bank“,
bekommt hier der Begriff der Bank eine ganz andere Bedeutung. Ein
Verstehen verlangt so immer die Kenntnis des Kontextes, des
Ereignises, der dem Ereignis erst seine Bedeutung gibt. Und komplexe
Ereignisse erheischen so, um verstanden zu werden, einen religiösen
oder metaphysischen, weltanschaulichen Deutungskontext, ohne den uns
Ereignisse zu sinnlosen Aussagen werden.
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