In seinem Arbeitszimmer sitzt ein jüngere Mann,
auf dem Schreibtisch ist ein Globus aufgestellt, auf den er schaut,
während er ihn immer wieder hin- und herdreht: Wo könnte ich nur
die Nächstenliebe praktizieren? So viele theoretisch-abstrakte
Moraltheologievorlesungen hörte ich nun schon in meinem Studium,
aber das ist alles nur graue Theorie- zu Taten drängt es mich, denn
der Worte sind (in den Seminaren)genug gewechselt! In Afrika
vielleicht, oder auf dem kalten Nordpol, oder unter Indianern (er
hatte in der Jugend Karl May verschlungen und den edlen Winnetou
geliebt)- aber da wird er in seinem Grübeln gestört. Eine klägliche
Stimme dringt zu ihm empor:
"Eine Mark für einen armen Bettler, bitte eine
Mark..."
"Stör mich nicht, ich suche einen Ort für
mein Nächstenliebeengagement! Es ruft mich zur Tat! Stör mich nicht
mit Deiner Jammerei und huste nicht soviel, denn wie soll ich da
nachdenken können!
Eine Persiflage auf sich engagieren wollende
Christen? Oder ist an dieser Geschichte doch viel Wahres dran? Seinen
Nächsten zu lieben, das ist nämlich gar nicht so einfach, besonders
wenn er uns in der Gestalt eines Bettlers, ungewaschen und nach
Alkohol riechend gegenübersteht, der dann auch noch vor sich
hinflucht, weil ihm niemand etwas gibt. Wie viel leichter fällt da
die Fernstenliebe, denn weil wir den Fernen nicht sehen, wie er
wirklich ist, fällt es leicht, sich von ihm ein idealisiertes Bild
auszumalen, um dann dies Bild zu lieben. Der edle Indianer an den
Flüssen Amazoniens, der Afrikaner, der noch ganz natürlich als
Buschmensch lebt ...
Aber wer ist denn nun unser Nächster? Nähe ist ein
Raum- und ein Verwandtschaftsbegriff, der in meiner örtlichen Nähe
Wohnende und der mir durch die gemeinsame Herkunft oder
Familienbindungen Nahe. Der Begriff des Nächsten includiert immer
auch eine Grenzziehung, indem es den Nichtnächsten excludiert.
Warum? Weil nur so die Nächstenliebe lebbar ist, denn wollte einer
alle lieben, nicht nur theoretisch sondern auch praktisch durch Werke
der Nächstenliebe, wäre er damit hoffnungslos überfordert. Nur ein
Gott kann alle tatkräftig lieben.
Indem ich nicht irgendwo sondern an einem bestimmten
Ort von einer bestimmten Mutter geboren wurde, entsteht für mich so
die Ordnung der Nähe im räumlichen wie im verwandschaftlichen
Sinne.Gott stellt so jeden auf seinen Posten. Das könnte verglichen
werden mit einem Schauspieldirektor, der jedem einzelnen Schauspieler
seine Rolle zuweist in dem großen Welttheater: Jeder hat nun seine
Rolle an seinem Platz gut zu spielen. Seine Rolle verlassen, das wäre
dann eine Art der Fahnenflucht. Der Nächste ist mir so durch meine
bestimmte Geburt gegeben, als Liebe zu den Eltern, der Familie, zu
dem Volke, dem ich angehöre, aber auch als Liebe zu den Nachbarn,
den mir räumlich Nahen, also auch der Stadt und dem Staat gegenüber,
dem ich angehöre. Dies alles meint der Begriff der Heimat, aus der
wir und für die wir so leben im Geiste der Nächstenliebe.
Es meint somit nicht, daß die Nahen "Bessere",
der Liebe "Würdigere" wären, sodaß sie deshalb zu lieben
wären, nein sie sind zu lieben (hier im Sinne des hl. Thomas von
Aquin als Gutes Tuen wollen), weil sie mir von Gott als Nahe, als
Nächste gegeben worden sind. Die geforderte Liebe ist nämlich eine
in sich geordnete, auch weil sie so nur praktizierbar ist.
Die Fernstenliebe flieht vor dieser Pflicht, indem
diese Liebe sich Lieblingsnächstenliebeobjekte willkürlich erwählt,
um den -um in der Geschichte zu bleiben- Bettler vor eigenen Haustüre
zu übersehen.
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