Freitag, 14. Februar 2020

Fernstenliebe als Flucht vor der Nächstenliebe?

In seinem Arbeitszimmer sitzt ein jüngere Mann, auf dem Schreibtisch ist ein Globus aufgestellt, auf den er schaut, während er ihn immer wieder hin- und herdreht: Wo könnte ich nur die Nächstenliebe praktizieren? So viele theoretisch-abstrakte Moraltheologievorlesungen hörte ich nun schon in meinem Studium, aber das ist alles nur graue Theorie- zu Taten drängt es mich, denn der Worte sind (in den Seminaren)genug gewechselt! In Afrika vielleicht, oder auf dem kalten Nordpol, oder unter Indianern (er  hatte in der Jugend Karl May verschlungen und den edlen Winnetou geliebt)- aber da wird er in seinem Grübeln gestört. Eine klägliche Stimme dringt zu ihm empor: 
"Eine Mark für einen armen Bettler, bitte eine Mark..."
"Stör mich nicht, ich suche einen Ort für mein Nächstenliebeengagement! Es ruft mich zur Tat! Stör mich nicht mit Deiner Jammerei und huste nicht soviel, denn wie soll ich da nachdenken können! 
Eine Persiflage auf sich engagieren wollende Christen? Oder ist an dieser Geschichte doch viel Wahres dran? Seinen Nächsten zu lieben, das ist nämlich gar nicht so einfach, besonders wenn er uns in der Gestalt eines Bettlers, ungewaschen und nach Alkohol riechend gegenübersteht, der dann auch noch vor sich hinflucht, weil ihm niemand etwas gibt. Wie viel leichter fällt da die Fernstenliebe, denn weil wir den Fernen nicht sehen, wie er wirklich ist, fällt es leicht, sich von ihm ein idealisiertes Bild auszumalen, um dann dies Bild zu lieben. Der edle Indianer an den Flüssen Amazoniens, der Afrikaner, der noch ganz natürlich als Buschmensch lebt ...
Aber wer ist denn nun unser Nächster? Nähe ist ein Raum- und ein Verwandtschaftsbegriff, der in meiner örtlichen Nähe Wohnende und der mir durch die gemeinsame Herkunft oder Familienbindungen Nahe. Der Begriff des Nächsten includiert immer auch eine Grenzziehung, indem es den Nichtnächsten excludiert. Warum? Weil nur so die Nächstenliebe lebbar ist, denn wollte einer alle lieben, nicht nur theoretisch sondern auch praktisch durch Werke der Nächstenliebe, wäre er damit hoffnungslos überfordert. Nur ein Gott kann alle tatkräftig lieben. 
Indem ich nicht irgendwo sondern an einem bestimmten Ort von einer bestimmten Mutter geboren wurde, entsteht für mich so die Ordnung der Nähe im räumlichen wie im verwandschaftlichen Sinne.Gott stellt so jeden auf seinen Posten. Das könnte verglichen werden mit einem Schauspieldirektor, der jedem einzelnen Schauspieler seine Rolle zuweist in dem großen Welttheater: Jeder hat nun seine Rolle an seinem Platz gut zu spielen. Seine Rolle verlassen, das wäre dann eine Art der Fahnenflucht. Der Nächste ist mir so durch meine bestimmte Geburt gegeben, als Liebe zu den Eltern, der Familie, zu dem Volke, dem ich angehöre, aber auch als Liebe zu den Nachbarn, den mir räumlich Nahen, also auch der Stadt und dem Staat gegenüber, dem ich angehöre. Dies alles meint der Begriff der Heimat, aus der wir und für die wir so leben im Geiste der Nächstenliebe.
Es meint somit nicht, daß die Nahen "Bessere", der Liebe "Würdigere" wären, sodaß sie deshalb zu lieben wären, nein sie sind zu lieben (hier im Sinne des hl. Thomas von Aquin als Gutes Tuen wollen), weil sie mir von Gott als Nahe, als Nächste gegeben worden sind. Die geforderte Liebe ist nämlich eine in sich geordnete, auch weil sie so nur praktizierbar ist. 
Die Fernstenliebe flieht vor dieser Pflicht, indem diese Liebe sich Lieblingsnächstenliebeobjekte willkürlich erwählt, um den -um in der Geschichte zu bleiben- Bettler vor eigenen Haustüre zu übersehen.    



   

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