Nietzsche verdanken wir diese Aussage über unsere Wahrheiten: „Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind“. Aus : „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“. Nun evoziert diese Aussage selbstredend einen gewichtigen Einwand: Da diese Aussage Nietzsches von ihm als eine wahre ausgesagt wird, müßte dann nicht auch von ihr gelten, daß sie eine Illusion sei? So sind wir genötigt, einen doppelten Begriff der Wahrheit hier präsumieren zu müssen, den der falschen Wahrheit aller vermeintlichen Wahrheiten und den der wahren nicht illusionären Wahrheit dieser Erkenntnis der Nichtwahrheit aller unserer Wahrheiten.
Dieser doppelten Wahrheitsbegriff könnte nun temporär aufgelöst werden: Am Anfang stünde die wahre Erkenntnis, die so erschreckend sei für uns, daß wir sie verdrängen durch von uns konstruierte Illusionen, die die Wahrheit verdrängen sollen. Slavoj Zizek, sicherlich einer der bedeutendsten jetzt lebenden Denker kann hier vielleicht diese Vorstellung uns erhellen:
„Dies führt uns zu einer weiteren grundlegenden Komplikation: Was,wenn dasjenige, was wir als >Realität< erfahren, durch Phantasie strukturiert wäre und wenn die Phantasie als Schirm diente, der uns vor der direkten Überwältigung durch das rohe Reale beschützen würde? Dann kann die Realität selbst als Flucht vor der Begegnung mit dem Realen dienen.“ Zizek, Lacan. Eine Einführung, 2008,S.79. Ein Anklang an den philosophischen Konstruktivismus, die Wirklichkeit sei ein soziales Produkt ist unverkennbar.
Zur weiteren Illustration sei hier H.P. Lovecrafts Votum zum Thema der verdrängten Wahrheit in Erinnerung gebracht:
»Die größte Gnade auf dieser Welt ist, so scheint es mir, das Nichtvermögen des menschlichen Geistes, all ihre inneren Geschehnisse miteinander in Verbindung zu bringen. Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Unwissens inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt,diese zu bereisen. Die Wissenschaften – deren jede in eine eigene Richtung zielt – haben uns bis jetzt wenig bekümmert: aber eines Tages wird das Zusammenfügen der einzelnen Erkenntnisse so erschreckende Aspekte“ der Wirklichkeit eröffnen, daß wir durch diese Enthüllung entweder dem Wahnsinn verfallen oder aus dem tödlichen Licht inden Frieden und die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters fliehen werden.« Cthulhus Ruf.
Daß uns die Realität offenbar geworden war und ob der Schrecklichkeit sie von uns verdrängt wird, ist das nicht die Wahrheit über das Denken der Aufklärung?
Heutzutage ist uns die christliche Religion nur noch die Verkündigung eines Gottes der Liebe, der zu jedem Menschen sein Ja spricht. Wenn der Gefängniswärter Paulus anruft: „Was muß ich tuen, um gerettet zu werden?“ (Apg 16,30), dann ist diese Frage der heutigen Kirche völlig unverständlich geworden. Warum müsse denn der Mensch gerettet werden? Er lebt doch in der Liebe Gottes, sodaß ihm Paulus hätte respondieren müssen: „Nichts, denn Gott liebt Dich!“ Die bedingungslose Liebe Gottes zu jedem Menschen verunmöglicht es, auf die Frage mit Paulus zu respondieren: „Glaube an Jesus,den Herrn und du wirst gerettet werden“.Denn der Glaube kann ja ob der Vorstellung von der unbedingten Liebe Gottes nicht als die Bedingung für das Gerettetwerden verstanden werden. Der Glaube ist so – im Sinne Karl Barths- nur noch ein Erkennen, ein Anerkennen und ein Bekennen der Wahrheit, nicht aber die Aneignung des Heiles.
So kann es auch gar nichts mehr geben, wovon oder woraus wir gerettet werden müßten. Vor was sollte uns den Glaube an Jesus Christus erretten? Meinte der Gefängniswärter vielleicht seine eventuellen Eheprobleme, die Sorge um den Erhalt seines Arbeitsplatzes, den er zu verlieren drohte, weil nun die ihm anvertrauten Gefangenen frei vor ihm standen, oder oder? Nein, in erster Linie meint hier die Rettung die vor dem Zornesgerichtes Gottes über uns alle, weil wir alle in den Augen Gottes Sünder sind. Es droht ganz real die Verurteilung zur ewigen Verdammnis durch Gott in seinem Endgericht. Diese Wahrheit offenbarte Jesus Christus uns, er offenbarte uns dann aber auch unsere Errettungsmöglichkeit durch den wahren Glauben. Darum lehrt uns Jesus ja selbst: „Fürchtet euch nicht vor denen,die den Leib töten,die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann.“ Mt 10,28. Der Teufel kann zwar zur Sünde verführen, aber nur Gott kann den Menschen zur ewigen Verdammnis in der Hölle verurteilen. Das ist ein reales Gesicht Gottes, er ist eben nicht nur die Liebe. Vor diesem Realen flieht seit der Aufklärung auch die Theologie.
Diese Realität war also für das aufklärerische Denken nicht mehr hinnehmbar. Es wurde ein neuer vernünftiger Gott konstruiert, der am Ende des Aufklärungsprozesses nur noch der Gott der Liebe ist, der niemanden verdammt, der die Hölle abgeschafft hat und somit auch das Gericht. Dieser aufklärerisch gedachte Gott kann nun wirklich verstanden werden als ein Produkt der Flucht vor der Realität, vor dem Realen des Zornes Gottes. Dieser Aufklärungsgott ist so die Flucht vor der Begegnung mit dem Realen, der Angst vor der Vorstellung vom Zorn Gottes, der uns treffen kann, weil wir Sünder sind. Nicht ein Mehr an Gotteserkenntnis sondern eine Verdunkelung erbrachte so die Umformung des christlichen Gottes durch die Aufklärung.Gott galt es zu domestizieren und zu pazifizieren, sodaß gelehrt werden konnte, daß es gleichgültig sei, ob und wie wir Gott glauben. So siegte die Aufklärung über Gott.
Zusatz:
Mit Camille Paglia könnte gefragt werden, ob das, was wir "Wirklichkeit" nennen nicht nur ein Produkt unseres apollinischen Blickes ist, daß wir so das Reale verdrängen, um in Phantasiewelten zu leben. Faszinieren deshalb die Werke Poes und Lovecrafts so sehr, weil in ihnen das verdrängte Reale zum Erscheinen kommt?
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