Man sieht mich- das Gesehenwerden als die Basis des moralischen Verhaltens?
In einer Betrachtung über Folgen des Blindseins finden sich in dem Roman:“Lucilla“ von Wilkie Collins (auch wunderbar verfilmt) eine mehr als bedenkenswerte Erwägung zum Verhältnis von dem Gesehenwerden und der Moral. Ich zitierte aus dem 11.Kapitel nach der Übersetzung von E.Schönfeld:“wie denn das aussähe“. „Scheu und Zurückhaltung entstammen im wesentlichen dem mit den Jahren wachsenden Bewußtsein,daß wir von anderen >betrachtet< und nach unserem äußeren Verhalten beurteilt werden.“ Das “wie denn das aussähe“ reflektiert dies Betrachtwerden: Wie würde mein Verhalten von den anderen angesehen, beurteilt werden, wenn ich das so machte?
Nun wird hier diese sicher bezweifelbare These aufgestellt:“Wer nicht sieht,glaubt gewissermaßen, auch selbst nicht gesehen zu werden, und hat darum weniger Hemmungen.Auch das schüchternste Mädchen läßt sich von ihrem Liebhaber eher im Dunkeln küssen als bei Tageslicht.“ Wahrscheinlicher erscheint es mir, daß ein Blinder, da er nicht sieht, ob irgendwer ihn sieht, davon ausgeht,immer gesehen zu werden von irgendwem, wenn er nicht sich gewiß ist, von niemanden gesehen zu werden.Der Glaube, nicht gesehen zu werden, ermöglicht so ein unmoralisches Handeln wie der Glaube, von anderen gesehen zu werden die Frage entstehen läßt: „Was wird der mich Sehende über mich denken, wie über mich urteilen, wenn ich das oder dies täte?“
Das eigene Blindsein wird als der Grund angenommen, zu glauben, nicht gesehen zu werden und somit auch nicht von den Anderen be- und gar verurteilt zu werden. Wie nun, wenn in unserer heutigen Massengesellschaft viele den Eindruck haben, von niemanden mehr gesehen und beobachtet zu werden? Man mache einmal dies kleine Experiment: Erinnere Dich an Deinen letzten Einkauf in einem Verbrauchermarkt und überlege: Wen hast Du beim Einkaufen gesehen? Wie genau kannst Du Dich noch an das dortige tätige Personal erinnern und kannst Du Dich noch an andere da anwesend gewesene Kunden erinnern, an einige, an alle? Es ist wohl keine Übertreibung, wenn ich urteile: Die allermeisten sah man,um sie dann gleich wieder zu vergessen. So beurteilt man sie dann auch nicht.
Abstrakter formuliert: Die Gesellschaft funktioniert als Ganzes, auch wenn ihre Teile individuell nicht moralisch sich verhalten: Es wird (kaum noch?) beachtet, was wer privat macht, er muß nur funktionieren. Der „große Andere“ von dem Lacan so viel zu schreiben wußte oder noch altmodischer Gott sieht und beobachtet uns nicht mehr.“Auf mich schaut keiner mehr.“ In einer Massengesellschaft, die zusehens eine Tendenz zur Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen auszeichnet, verliert die Frage: “wie denn das aussähe“ im Auge des Anderen, des mich Beobachtenden an Bedeutung. Wer außer den sog. Prominenten wird denn noch einer Beobachtung wertgeschätzt? Wie in einer Wüste das Einzelsandkorn nicht beachtet wird, so scheint in einer Massengesellschaft der Einzelne nicht mehr beachtenswert.
Einst sah Gott auf jeden und ER sah alles- nur dieser Gott ist der Moderne abhandengekommen. Gott beurteilte auch,ja er kann auch verurteilen.Diesen Gott,der so beurteilt hat auch die moderne Theologie abgeschafft und substituiert durch den Gott liebt jeden.
Zusatz:
Man sollte nicht vorschnell den Anderen, der mich sieht und beurteilt als eine Projektion des eigenen Überiches dechrifieren, eher ist das eigene Überich die Verinnerlichung der Anderen als mich Be- und auch Verurteilende.
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