Diese Phrase kennen wir in vielfältigsten Variationen: Die Jugend ohne Religion, das sei eine ohne Orientierung, ohne Werte und Normen, ja der Mensch käme nicht ohne Religion, ohne eine religiöse Orientierungshilfe aus. Das klingt vertraut und so auch glaubwürdig. Nur, stimmt das auch?
Könnte es sein, daß dieser Eindruck nur entsteht, wenn der Mensch abstrakt betrachtet wird? Zur Veranschaulichung: Ein Mensch spielt eine Schachpartie. Er ist Vereinsspieler und es wird um die Meisterschaft gekämpft. Das Regelsystem Schach bestimmt, wie er seine Spielfiguren ziehen kann, das Ziel zu gewinnen, läßt zwischen sinnvollen und erlaubten aber sinnwidrigen Zügen unterscheiden. Der individuelle Charakter des Spielers läßt ihn dann bestimmte Schachzüge und Eröffnungen dieses Spieles bevorzugen. Einfach gesagt: Das Schachspiel ist hinreichend durch sich selbst bestimmt, als daß es noch einer externen Orientierungshilfe bedürfte.
Der Mensch lebt nun in verschiedenen sozialen Räumen. Unter einem sozialen Raum sei eine transindividuell vorgegebene Ordnung verstanden, die bestimmt, wie sich jeder zu verhalten hat, wenn er als Aktiver in diesem Raume engagiert ist. Die Welt des Berufslebens, eingeschrieben in die Ordnung der Ökonomie, erhält durch das Regelsystem der Ökonomie und der Besonderheit der bestimmten Arbeit seine Ordnung, das Familienleben als soziale Ordnung wieder eine ganz andere, aber auch hier entwerfen die Familienmitglieder nicht als creatio ex nihilo eine Ordnung für sich sondern legen nur die vorgegebene Ordnung für sich aus. Ein Schauspieler spielt immer eine ihm vorgegebene Rolle, er interpretiert sie nur als Schauspieler auf der Bühne individuell.
Überall in jedem sozialen Raum existiert also vor dem individuellen Wirken in ihm ein soziales Regelsystem, das für diesen Raum eine hinreichende Orientierung ermöglcht.
Im Sinne des Soziologen Luhmann wird man wohl sagen müssen, daß das Ganze keine Orientierung für das Ganze aufweist, da es nur noch zu einer Orientierung in jedem Subsystem hinreichend orientierende Regelsysteme gibt. Zur Veranschaulichung sei an das Schachspiel als System und an gespielte Schachpartien gedacht. Das, was Individualität ist, bestimmt so das jeweilige Subsystem in Hinsicht auf die Akteure in ihm als die Summe der Spielmöglichkeiten, die das Regelsystem hervorbringt und aus denen dann zu erwählen ist: Wie spiele ich jetzt?
So seltsam es klingt, aber in der postmodernen Gesellschaft mit ihrem ausdifferenzierten Subsysstemen ist genau genommen gar kein Bedarf mehr vorhanden für sytemexterne Orientierungen.
Anders gesagt: Wie immer ein Christ auch meint, leben zu müssen oder zu wollen, sobald er in einem Subsystem agiert, agiert er da nach den dortigen Möglichkeiten. Lassen diese christliche Spielzüge zu, dann kann er auch in ihnen christlich agieren, aber nur, wenn die eine christliche Wahloption in dem Subsystem zuläßt. So kann man als Christ Krankenhausarzt sein, solange man nicht verpflichtet ist, Kindestötungen im Mutterleibe durchzuführen. Gibt es nun Berufe, die ein Christ nicht ausüben kann, weil in ihr keine Handlungsweise möglich ist, die kompatibel ist mit der Lehre der Kirche? Sicher: Sklavenhändler!
Eines ist aber nicht wegdiskutierbar: daß das soziale Leben in seinem Aus-differenzierungsgrad in Subsysteme kaum noch einen Raum freiläßt für eine religiöse systemexterne Orientierungshilfe, weil die Subsysteme schon in sich hinreichend reguliert sind! Also: Schlechte Zeiten für die Religion? Nur, eine Frage läßt die Regulierungsleistung der Subsysteme offen: Was ist der Sinn des Ganzen? Wozu das Ganze der hinreichend regulierten Subsysteme? Dem Ganzen fehlt die Orientierung, aber das ist nicht der Ort des Individuumes, das nach der Religion für sich frägt. Religion ist eine Funktion für das Ganze, müßte religionsoziologisch durchdekliniert werden.
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