Donnerstag, 10. Juni 2021

Wir haben Gott mehr zu gehorchen als....



Daß ein Christ Gott mehr zu gehorchen hat als Menschen (als auch Engeln, siehe Paulus Galaterbrief), wer würde das als Christ ernsthaft bestreiten. Angezweifelt werden kann und muß auch, daß wir Christen das auch so immer praktiziert hätten. Trotzdem verbirgt sich aber in diesem scheinbar so Einfachen ein Meer von Problemen. „Als Menschen“ ist nun auszudifferenzieren in: a)dem Staat mit seinem positiven Recht, b)der Kirche mit ihrem Kirchenrecht und der Morallehre und c)dem eigenen Gewissen.

Wenn was Gott von uns will der Kirche, dem Staat und meinem Gewissen entspricht, gibt es keine theoretischen Probleme mehr, denn ich erkenne so, was ich zu tuen und was ich zu unterlassen habe, Probleme entstehen erst, wenn es in Hinsicht auf die Frage, was habe ich zu tuen und was zu unterlassen, differente Ansprüche zwischen Gott, Staat, Kirche und meinem Gewissen auftreten.

Der extremste Standpunkt ist nun der, daß mein Gewissen die Letztentscheidungsinstanz dieser moralischen Entscheidung ist. Dieser extremistische Standpunkt erlangte in der abendländischen Kultur seine Anerkennung nach der Erfahrung der innerchristlichen Religionskriege des 17. Jahrhundertes als Antwort auf die Frage, wie kann noch erkannt werden, wie der Mensch zu leben habe, wenn das Christentum, zerspaltet in diverse Confessionskirchen verschiedene untereinander inkompatible Antworten präsentiert? Allein die Vernunft kann das erkennen. Das Ideal einer rein vernünftigen Religion entwarf so der Aufklärungsphilosoph Kant, die Religion die rein vernünftig ist, das heißt ohne eine behauptete Offenbarung und ohne eine Kirche, denn die praktische Vernunft mit ihren Postulaten, (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) reiche aus. Im praktischen Leben sei nun das Gewissen der Ort der Präsenz dieser praktischen Vernunft im Menschen, auf dessen Stimme so allein zu hören ist.

Theologiegeschichtlich ist dies eine Neuauflage des Pelagianismus, daß Gott für die Erlangung des Heiles nichts anderes verlangen könne als das jedem Menschen qua seinem Menschsein an Gutem Mögliche. Damit wird die Offenbarung Gottes, die Gnade und die Kirche als nicht für das Heil Notwendiges bestimmt, aber es seien Größen, durch die das Heil leichter zu erlangen sei.

Die Vernunft, im Gewissen präsent, gilt so als das Allgemeine, wohingegen die Kirchen mit ihren Lehren als das Particulare gelten, das so nicht wahr sein kann. Die Romantik individualisierte dann den Menschen, betonte die Geschlechtsdifferenz und die Differenz der Volkscharaktere und individualisierte so auch das Gewissen: Mein persönliches Gewissen, das sollte so die einzige Autorität für mich sein. Da das, zur allgemeinen Norm erhoben, ein soziales Leben verunmöglichen müßte, mußte der Gehorsam dem Staate gegenüber eingefordert werden. Die Geburt des Konzeptes des Nationalstaates verdankt sich so auch des Verlustes der Anerkennung der Autorität der Kirche und der Einsicht, daß kein Gemeinwesen auf dem Fundament individuierter Gewissen aufgebaut werden kann.

Wo nun aber der Staat die absolute Autorität sein soll, sind Konflikte mit der Kirche und den Staatsbürgern, die sich einem Gott gegenüber gehorsamspflichtig ansehen, vorprogrammiert.

Gott ist mehr zu gehorchen als dem Staate“ ist so eine Abwehrformel gegenüber Ansprüchen des Staates, die mit der christlichen Religion unvereinbar sind. Aber wer entscheidet nun wie was von einem Staate Gebotene und Verbotene mit der christlichen Religion inkompatibel ist? (Und wie gilt das für die anderen in unserem Staate präsenten Religionen?) Da die Religionen im Regelfall organisiert und institutionalisiert sind, liegt die Antwort nahe zu sagen, daß diese Institutionen diese Entscheidung zu treffen haben, also in der Katholischen Kirche die Bischöfe oder der Papst. Als Alternative böte sich nun der Einzelchrist mit seinem christlich gebildeten Gewissen an. Aber hier muß wohl sofort eingedenk der Einsicht in die Entlastungsfunktion der Institutionen für den Einzelmenschen nach A.Gehlen ein Einspruch erhoben werden. Wenn jeder in seinem individuellen Gewissen entscheiden dürfte, was Gott von ihm verlange und er das dann auch vollziehen dürfe, oder gar müsse, dann müßte ja den Eltern, die in Indien eines ihrer Kinder töteten, besser gesagt opferten, um den Zorn der Göttin Kali zu besänftigen, Recht geben.

Zur Verehrung dieser Göttin gehört das Menschenopfer dazu, auch wenn diese Praxis im heutigen Indien verboten ist- aber was, wenn nun Anhänger dieser Gottheit sich von ihrem Gewissen verpflichtet sehen, Menschenopfer darzubringen? Wenn jeder religiöse Mensch das tuen dürfte, was von ihm sein religiöses Gewissen fordert, wir schüfen uns die Hölle auf Erden oder eine Gottesstaatsdiktatur.

Es müssen also Grenzen gezogen werden, wann einem religiös geprägtem Gewissen das von seinem Gewissen Geforderte nicht erlaubbar sein kann, etwa wenn ein Muslim sich verpflichtet fühlen würde, einen Kritiker des Propheten selbst zu töten, weil der Deutsche Rechtsstaat sich weigert, die notwendige Todesstrafe an den Prophetenkritikern zu vollziehen. In einer multireligiösen Gesellschaft sind solche staatlichen Limitierungen für das Gemeinwohl isb den Frieden der Menschen unbedingt notwendig.

Aber in welchen Grenzen ist dann vom Staate die Gewissensfreiheit zu bejahen? Ist es seine eigenste Aufgabe, den zugebilligten Freiraum selbst zu bestimmen? Wo aber der Einzelne sich autorisiert weiß, im Namen seines religiösen Gewissens gegen staatliche Gesetze zu handeln, da entsteht ein tragischer Konflikt, denn ein Rechtsstaat kann etwa nie das Töten von anderen Menschen aus religiösen Motiven erlauben, auch wenn der Täter sich auf sein Gewissen beruft. Der religiöse Mensch müßte dann gegen den Staat handeln, wenn das ihm religiös Gebotene vom Staate verboten wird. So handelt es sich auch um einen Mißbrauch der Gewissensfreiheit, wenn Christen die Abschiebung von abgelehnten Asylanten zu verhindern versuchen durch die Gewährung von sogenannten „Kirchenasylen“. Ein noch so gut gebildetes christliches Gewissen besitzt nämlich nicht die Kompetenz, besser als die dafür vorgesehenen Gerichte,über Asylanträge zu entscheiden und so rechtsstaatlich ergangene Entscheidungen nicht zu akzeptieren: „Mein Gewissen sagt mir, daß hier das Gericht irrte!“

Aber dabei dürfen nun auch andere Konfliktfelder nicht übersehen werden. Was ist zu tuen, wenn die kirchliche Morallehre etwas als eine Sünde qualifiziert, was das individuelle Gewissen als mir erlaubt beurteilt? Hier könnte nun vom Einzelchristen eine Differenz behauptet werden zwischen dem, was Gott will und dem was die Kirche lehrt, um dann zu urteilen, daß das meinige Gewissen besser erfasse, was Gottes Wille in dieser strittigen Sache sei als die Kirche. Daß dieses Urteil ein sehr gewagtes ist und der dann das so Praktizierende in die Gefahr sich begibt, seinem Gewissen gehorchend, zu sündigen, kann nicht wegdisputiert werden, aber dieser Fall kann nicht in Gänze ausgeschlossen werden. Die Regel ist aber, daß ein Christ, lebt er gemäß der Lehre der Kirche, Gottes Willen gemäß lebt.

Anders verhält es sich in dem Fall, daß die Kirche selbst die Befolgung einer bestimmten Morallehre unter den Vorbehalt stellte, daß aus Gewissensgründen diese Lehre auch nicht befolgt werden braucht. Das ist die Situation in allen deutschsprachigen Ländern: Die Katholische Kirche verbietet den Gebrauch von Verhütungsmitteln, die deutschsprachigen Bischöfe erklärten dann aber, daß die Gläubigen in ihren Bistümern die eigentlich unerlaubten Verhütungsmittel doch benutzen dürfen, wenn ihr Gewissen das ihnen erlaubt. Da der Vatican diese Erklärungen nicht revozieren ließ, stehen die Gläubigen vor dem Paradox, daß etwas von der Kirche Verbotenes sie doch praktizieren dürfen ob dieser bischöflichen Erlaubnis. Hier urteilten dann die Gläubigen nicht eigenmächtig: Was mir mein Gewissen erlaubt, das darf mir die Kirche nicht verbieten, sondern mit der bischöflichen Erlaubnis, die für sie maßgebend ist, solange Rom nicht die Revozierung diese Erlaubnisse fordert.


Was ist aber zu tuen, wenn Gott etwas von mir verlangt, was meinem Gewissen widerspricht? Dieser Fall lag ja vor, als Gott von Abraham die Tötung und Opferung seines einzigen Sohnes verlangte. Für den Philosophen Kant kann es nur eine Antwort geben, die des Nichtgehorchens, weil das so Geforderte der praktischen Vernunft widerspricht. Die religiöse Antwort gab Abraham. Er opferte nicht nur seinen Sohn sondern zuvor sein Gewissen, weil er um Gott willen wider sein Gewissen handelte. In der christlichen Ausdeutung wird ja Abraham sein Ja zur Opferung seines Sohnes als Vollzug angerechnet. Denn es heißt ja im Jakobusbrief:

Denn Abraham hat seinen Sohn als Opfer auf den Altar gelegt:“ (2,21). Das und nicht allein sein Glaube machten ihn gerecht. Eines macht die Causa Abraham aber deutlich: Wo Menschen in Beziehung zu Gott leben, da ergibt sich immer auch die Möglichkeit des Tragischen, daß hier Abraham etwas tuen mußte, was jeder Moral widerspricht.

Das Anliegen des moralischen Diskurses ist es nun, das Tragische aus dem Leben auszuschließen, als das Dilemma, zwischen 2 Handlungsoptionen nur wählen zu können, aber immer, welche auch erwählt wird, sündigen zu müssen. Aber restlos ist das Tragische nicht ausschließbar aus dem realen Leben. In jedem Kriege töten Soldaten feindliche Soldaten, sie töten mit Absicht, nur so sind Schlachten zu gewinnen, und auch wenn der Krieg als ultima ratio ein legitimes Mittel des Staates ist, etwa als ein Verteidigungskrieg, so bleibt das im Kriege erlaubte Töten doch ein Sündigen. Noch deutlicher wird dies im Vollzug der Todesstrafe. Der Henker muß töten wollen, er tut das Richtige, da die Todesstrafe ein legitimes Strafmaß des Staates ist, aber wer wollte wegdiskutieren, daß hier der Henker, indem er seine Pflicht erfüllt, doch auch sündigt. Dies Tragische durch die moralische Verurteilung der Todesstrafe beseitigen zu wollen, verstößt aber gegen die Ansprüche der Gerechtigkeit, daß das Strafmaß der Schwere des Verbrechens entsprechen muß. So findet jede Moraltheologie in der Einsicht des Tragischen als eines wesentlichen Momentes des moralischen Lebens seine Grenze, die sie zu bejahen hat.


Zusatz:

Tschingis Aitmatov Erzählung: „Der Junge und das Meer“ veranschaulicht das Tragische im Leben in beeindruckender Weise, aber demonstriert auch die Grenzen moralphilosophischen Denkens: Ein Gruppe von älteren Männern in einem Boote mit dem Jungen. Widrige Umstände führen dazu, daß die vorhandenen Trinkvorräte nicht für alle reichen bis zur Erreichung des rettenden Ufers. Ein Mann nach dem Anderen wählt den Freitod, um schlußendlich das Leben des Jungen zu retten, der so allein lebend das Ufer erreicht. Laut dem Katholischen Katechismus ist jeder Freitod eine Sünde, aber hätte niemand sein Leben aufgeopfert, hätte keiner überleben können! Aitmatov zeigt uns nun aber die so Handelnden nicht als Verzweifelte, ihr Geschick Verfluchende, sondern als Menschen deren Größe daran besteht, jetzt genau so wissen, was sie zu tuen haben: Sie sind tragische Helden, da sie ihr Leben aufopfern müssen, um das eines Menschen zu retten.

 

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