Über
Bücher und das Lesen
Eine Lesende
Es ist 21:37, nein, es
ist noch nicht 21:37. Mein Buch lege ich aus der Hand, stehe von
meinem Lesesofa auf, das Buch wird zugeklappt, ziehe eine Jacke und
Schuhe an, ein kurzer Blick ins Portemonnaie und ich begebe mich zur
Abfahrtsstelle des Busses Richtung Innenstadt. Er wird, wie immer,
pünktlich abfahren und ich, wie immer zu rechtzeitig dasein, aber
der Busfahrer läßt die Fahrgäste an dieser Endstelle schon früher
einsteigen.
Und dann ereignet sich da
ein kleines Ritual, das uns, darüber nachdenkend, erste Aufschlüsse
über das Buch und das Lesen erschließen könnte. Ein junges
Liebespaar-eine letzte zärtliche Umarmung, dann entwindet sich die
junge Frau der Umarmung, ein letzter Blick hin zum Freund, dann
steigt sie in den Bus. Sie sitzt noch nicht, da ist ihre Handtasche
schon geöffnet, der angelesene Roman in ihren Händen und: sie
beginnt zu lesen. Das Titelbild verrät: ein Liebesroman, einer
dieser viel geschmähten „Groschenromane“. Entrückt ist unsere
Leserin, verträumt liest sie...und ohne noch mal aufzuschauen ist
sie nun eingetaucht in diesen Roman. Bis daß ihre Aussteigstation
kommt und sie den Bus verläßt. Ich selbst fahre eine Station
weiter, gehe zu meinem Stammlokal, genehmige mir dort ein gutes Bier
und beschließe, über das Gesehene nachzudenken. Eine Zentralfrage
erhebt sich mir dabei: Wo bin ich, wenn ich lese?
Sie saß im Bus, aber im
Geiste war sie ganz woanders. Vulgär ist die Vorstellung, daß Lesen
eine Kompensation für das reales Leben wäre. Liebesromane lese, wer
(hauptsächlich Frauen), wer eben in Ermangelung gelebter Liebe zum
Ersatz einer fiktiven Liebe greife. Das Reale wäre die wirkliche
Liebe in der sogenannten Wirklichkeit und dadrüber schwebten dann
fiktive Lebensräume, in die sich der Lesende hineinnehmen ließe, um
in ihnen das Wirkliche zu verdrängen oder das zu finden, was das
wirkliche nicht böte. Der Mensch als ein in Multiversen lebende
Existenz.Aber nur die eine, die Wirklichkeit genieße das Privileg,
wirklich wahr zu sein, alle anderen wären Imaginationen. Wie das
Verhältnis der imaginierten zu der wirklichen Welt sich gestalte,
ist dann eine zentrale Frage der Ästhetik. Siegelt sie etwas wieder
oder drückt sie etwas aus und wie verhält sich das Imaginierte zur
Wirklichkeit im Sinne eine Zweckbestimmung: soll aufgeklärt werden,
oder unterhalten?
Aber bleiben wir noch bei
unserer Leserin. Ist die von ihr gelesene Liebesromangeschichte eine
Wiederspiegelung realer Liebengeschichten-also wäre das Kriterium
der Qualität der Literatur das des Realistischen, oder drückt sie
ein Ideal aus, das normativ sich verhält zu den realen
Liebesgeschichten des Lebens? Dann wäre gerade der Realismus eine
Verkennung des ideelen Charakters des Kunstwerkes. Ist die
Wirklichkeit die Norm für die Kunst oder ist das Ideele die Norm für
die Kunst, sodaß das Wirkliche das zu kritisierende wäre.
Liest sie, um eine ideele
Vorstellung von gelebter Liebe zu erleben, um von da aus ihr Leben zu
gestalten- oder sucht sie im Gelesenen nur die Wiederholung des
wirklichen Lebens der Liebe?
Das einfache
Kommunikationsmodell stellt sich das so vor: der Autor will etwas
mitteilen, ein Etwas, das evtl vorsprachlich gedacht oder empfunden,
er in Sprache umsetzt und dann verschriftlicht zum Text, so daß der
Lesende den Text hin zur Ursprungsintention des Autoren hin
zurückkonstruiert: Was wollte mir der Autor damit sagen? Das
Eigentliche wäre so das Innere des Autoren als Aussageintention und
das Werk, der Text nur das Medium seiner Vermittelung. Der Text
drückt etwas Vortextliches aus. Ist das Sein des Textes also hinter
dem Text als unter ihm Verborgenes?
Ein heiliger Text wäre
so nur ein Text, der das Heilige als ein von ihm Verschiedenes zum
Ausdruck bringt- ja, er sollte eigentlich verschwinden um der
Idealität der Unmittelbarkeit zum Heiligen willen.
Aber der Lesende hat nur
noch den Text. Der Autor hat den Text wie eine Flaschenpost ins Meer
geworfen und er blieb zurück, während der Text sich von ihm
emanzipiert. Er wird zu etwas dem Autoren und seinen Intentionen
gegenüber Selbstständigem. Und als solcher ermöglicht er erst dem
Lesenden Lektüren, die ihm zu Erlebniswelten werden.
Was ist die Kraft der
Buchstaben, zu Worten und Sätzen und Satzkompensationen komponiert,
daß sie uns Welten schaffen, in denen dann der Lesende leben kann im
Akt des Lesens?
Was hat die imaginäre
Satzwelt (der Satz als kleinste Sinneinheit eines Textes) mit der
Realwelt gemein, was unterscheidet sie?
Wenn ich urteile, das
ist ein wahrer Freund, daß ein rechter Staat, dann ist dies Urteil
wahr, wenn der so beurteilte Freund der Idee des Freundes entspricht,
wie der Staat der Idee des Staates. Eine ideele und eine wirkliche
Welt werden in diesen Urteilen in Beziehung gesetzt. Urteile ich, das
sei ein Baum, dann ist diese Urteil nur wahr, wenn das so begriffene
Etwas eine Individuation der Idee des Baumseins, der Idee des Baumes
ist. Begreifen heißt, etwas unter seinen ihm zukommenden Begriff zu
subsumieren und diese Subsumation ist nur wahr, wenn genetisch
gesehen, das Subsumierte wirklich eine bestimmte Realisation seiner
Idee ist.
Partizipiert die Kunst am
ideelen Sein und tritt so der Wirklichkeit gegenüber? Könnte so die
Kunst wahrer als das Wirkliche sein? Die Idee des Kreises und der
Kugel findet im Wirklichen nie ein Etwas, das exakt dieser Idee
entspricht-sodaß uns das Wirkliche nur als Annäherung an die Idee
vorkommt, aber die Idee das Wahre und das Wirkliche das Defizitäre
ist.
Unserer Lesenden ist ja
die Idee der Liebe im Roman das eigentlich Wahre und sie hofft, das
im Wirklichen realisieren zu können. Erst die Ernüchterte wird
dann, immer mehr Abstriche vom Ideelen machend, auch ihr Glück in
einer wirklichen Liebe finden können. Die Extatisierte lebt im Lesen
noch das Wahre.
Wenn es das Wahre,das
Gute und das Schöne gibt, so erschlösse sich dies auch in der
Kunst-nicht nur in ihr- aber dann in einer bestimmten Weise- aber was
ist diese bestimmte Weise, in der sich diese Trias in der Kunst
vergegenwärtigt?
Wir lesen nicht nur
Romane-es gibt auch Sachtexte. Lesen wir Sachtexte anders als Romane?
Ja, aber, was macht dann den Unterschied aus? Kaprizieren wir uns auf
die Gattung des philosophischen Textes mit dem Vorurteil, daß gerade
diese Textgattung das Wesen des Sachtextes uns erschließt. Zu dem
jetzigen Zeitpunkt der Darlegung kann es nur ein Vorurteil sein. Im
philosophischen Text wird uns das Ganze von seinem Grund her und zu
seinem letzten Ziel hin begriffen dargelegt: es ist das Ganze, die
Totalität im Begriffensein. Jede andere Wissenschaft begreift nur
ein Teil des Ganzen und ist so dieser Wissenschaft subsumiert.Sie
begreift Teile in ihrem mannigfaltigem Reichtum, die Philosophie als
einzig konkrete Wissenschaft aber das Ganze als Ganzes. In
philosophischen Texten lesen wir die Welt als begriffene, die wir so
selbst nicht erleben. Wir erleben unser Leben in der Welt, begreifen
es aber nicht. Und so gesehen ist der philosophische Text wahrer als
das von uns selbst wahrgenommene Leben in seiner Unbegriffenheit.
Die Sprache ist dem
Wahren näher, als wir es uns bewußt sind, wenn wir sprechen.
Die Aussage: „Das ist
ein Baum“ meint im sinnlichen Bewußtsein, daß damit das eine
Einzeletwas gemeint ist, was damit benannt wird. Die Aussage
transzendiert aber diese Naivität der Sinnlichkeit: in der Aussage
steht der Begriff des Baumes und das so Begriffene wird in dieser
Sprachaussage begriffen als etwas Komplexes: als einen besonderen
Fall des allgemeinen Seins der Idee des Baumseins. Aber das
übersteigt schon das sinnliche Bewußtsein! Sähe es das ein,
begönne es zu philosophieren. In der Sprache ist so mehr Wahrheit
als im Bewußtsein des Sprechenden.
Der geschriebene Text ist
so wahrer als das Bewußtsein des Autoren in seinem Meinen, was er
ausdrücken will. Das ist der Quellgrund von der Lehre vom mehrfachen
Schriftsinn der Heiligen Texte.
Christlich theologisch
ergibt sich dies aus dem Johannesevangeliumprolog. Daß der Anfang
der göttliche Logos ist, daß Alles durch den Logos ist, bedeutet,
daß das Sprachliche, Vernunft wird im Logozentrismus sprachlich
gedacht, der Grund für Alles ist, sodaß Alles in der Struktur der
Sprache ist und Alles so auch wieder sprschlich-begrifflich begriffen
werden kann, denn der Logossprsache des Denkens entspricht die durch
den Logos geschaffene und geformte Welt.
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