Samstag, 17. September 2022

Zwischen Laxheit und Rigorismus oder über Moral und Lebensfeindlichkeit

Zwischen Laxheit und Rigorismus oder über Moral und Lebensfeindlichkeit


Wenn die Zeiten, wie die unserigen zur Laxheit tendieren und im Prinzip fast alles für erlaubt erklären, dann evoziert dies regelmäßig Sympathien für eine rigoristische Morallehre. Ein Musterbeispiel eines solchen Rigorismus bietet der Artikel: „Wahrheitsliebe und Lüge“ von J. Stöhr in der Monatszeitschrift „Theologisches“ Juli/Aug 2022. So wird hier die These aufgestellt: „Das Verbot der Lüge dagegen verpflichtet immer und unbedingt“. (Sp 267) Das dafür als Beweis zitierte Gebot, 2.Mose 20,16 besagt aber etwas anderes: „Du sollst nicht falsch wider deinen Nächsten aussagen.“ Das Aussagen wider hat seinen Sitz im Gerichtsprozeß und verbietet Falschaussagen zulasten meines Nächsten. Eine genauere Beschäftigung mit diesem Gebot würde verlangen, daß geklärt ist, wer hier mit dem Nächsten distinkt gemeint ist, ist jeder Mensch mein Nächster und was das „wider“ bedeutet. Aber solche Feinheiten liegen einem in Entweder-oder- Kategorien denkendem Rigorismus nicht.

Gesetz den Fall, ein Christ soll in einem islamischen Lande wegen der Lästerung des Propheten Mohammed zu Tode verurteilt werden und ein Christ hätte die Möglichkeit, ihm das Leben zu retten, indem er die Unwahrheit sagt, daß der Angeklagt nicht gesagt habe,Mohammed wäre kein Prophet Gottes. Diese Falschaussage wäre keine zu Lasten, wider den Angeklagten sondern eine Lüge, die ihm sein Leben retten würde. Aber jeder moralische Rigorist verurteilt diese Möglichkeit, einem Mitchristen so das Leben zu retten. Um nicht lügen zu müssen, nimmt er gar billigend die Hinrichtung seines Mitchristen in Kauf: Hauptsache, ich lüge nicht!

Der Rigorismus beruht so auf der Grundsatzentscheidung, daß die Gebote und Gesetze Gottes eingehalten werden müssen ohne daß auf die Folgen einer solchen Gesetzesobservanz eine Rücksicht genommen wird. Ein solcher Gesetzesrigorismus liegt ja der pharisäischen Auslegung der Heiligungsbestimmungen des Sabbates zu Grunde. Was darf ein Arzt und was darf er nicht an einem Sabbat? Auch der Arzt soll am Sabbat nicht arbeiten. Das gilt prinzipiell. Aber das Prinzipielle erlaubt, ja verlangt sogar Ausnahmen. Wenn ein Mensch in akuter Lebensgefahr sich befindet, etwa einen Herzinfarkt erlitt, muß der Arzt auch am Sonntag tätig werden. Einen chronischen Kranken dagegen darf ein Arzt nicht an einem Sabbat heilen, da es einem chronisch Erkrankten zumutbar ist, einen Tag auf seine Heilung zu warten. Man wird dies wohl als einen gemäßigten Rigorismus bezeichnen dürfen, so seltsam diese Formulierung auch klingen muß, da nicht gelehrt wird, daß in keinem Falle ein Arzt eingreifen dürfte, auch nicht bei akuter Lebensgefahr.

Für einen nicht gemäßigten Rigorismus kann Kant beispielhaft angeführt werden. Nach ihm gilt: Gesetz den Fall, ein Mann sagt zu einem Ehemann: „Ist ihre Frau in dem Keller? Ich will sie umbringen!“, dann darf auch in diesem Falle der Ehemann nicht lügen, sodaß der Mann dann seine Frau im Keller ermorden kann. Das wäre nun nicht etwa eine Beihilfe zur Tötung sondern zeige, wie vorbildlich dieser der unbedingten Pflicht zur Wahrheit genüge getan habe.

Daß Jesus Christus nun so völlig anders das Sabbatgebot auslegt als die zum Rigorismus neigenden Pharisäer ist der Skandalon aller Rigoristen. Es interpretiert nämlich das Sabbatgebot im Kontext des ganzen Gesetzes als auf das Wohlergehen des Menschen ausgerichtetes Gesetz und frägt darum: Kann es am Sabbat verboten sein, seinem Nächsten Gutes zu tuen? Durch diese Frage stellt er das Einzelgesetz in den Kontext des Gesamtgesetzes und interpretiert es von daher. Die pharisäische Auslegung isoliert das Heiligungsgebot des Sabbates, interpretiert es so abstrakt und verfehlt so den Sinn des Gesetzes: Der Pharisäer verbietet, daß für einen Menschen Gutes an einem Sabbat getan werden darf, etwa einen Blinden zu heilen.

So ist auch die Intention des Verbotes, falsch Zeugnis zu geben (vor Gericht) zum Schaden eines Angeklagten. Pervertiert wird dies Gebot aber, wenn ich einem zu Tode verurteilten Christen nicht durch die Lüge, er habe Mohammed nicht als Falschpropheten bezeichnet, das Leben retten darf.


Aber nicht nur für solche Extremsituationen erweist sich ein solcher Wahrheitsrigorismus als moralisch inakzeptabel. Für das gesellige Miteinander gehört ein etwas laxer Umgang mit der Wahrheit schon zum guten Benimm. Welcher Gast sagte etwa ehrlich zu dem Gastgeber, daß der dargebotene Wein schlecht sei und die Gastgeberin mal wieder zeige, was für einen schlechten Geschmack sie habe. Auch wenn diese Urteile gerecht und somit wahr wären, kein kultivierter Mensch äußerte das sondern lobte den Wein, wird er gefragt. Zudem: Welche Ehe hielte 30 Jahre, wenn beide immer nur die Wahrheit zueinander sagten.

Abstrakter formuliert: Das Gebot der Nächstenliebe und die Pflicht zur Wahrheit können in einen Widerstreit geraten, so daß man um der Nächstenliebe willen auch mal lügen muß, will man nicht gegen das Gebot der Nächstenliebe verstoßen. Dabei wird bei der Gebotsauslegung der Schwerpunkt auf das „wider“ gelegt. Durch eine Lüge jemandem einen Schaden zu fügen, ist eine Sünde. Wenn aber durch eine Lüge jemandem geholfen werden kann, kann sie gar geboten sein. Der Ehemann darf eben den Mörder belügen, um so die Ermordung seiner Frau zu verhindern.


Nun könnte eingewandt werden, daß niemals etwas Nichtgutes in den Dienst des Guten gestellt werden dürfe und so kann auch keine Lüge auch durch noch so einen guten Zweck gerechtfertigt werden, selbst nicht, wenn nur durch eine Lüge ein Menschenleben gerettet werden könnte. Das klingt doch gut, aber wie nun, wenn selbst Gott die Lüge in seinen Dienst nimmt, um eines guten Zweckes willen!


Der König Ahab will nicht auf Gottes Wort hören, er hört lieber auf die ihm günstigen Prophezeiungen bezüglich des Ausganges des anvisierten Krieges. Gott hat den Propheten den Geist der Lüge eingegeben, damit er den Krieg beginne und dann umkomme! (1.Könige, 22) Der Lügengeist sagt zu Gott: „Ich werde mich aufmachen und zu einem Lügengeist im Munde all seiner Propheten werden. Da sagte der Herr: Du wirst ihn betören;du vermagst es.Geh und tue es!“ (V.22) Gott selbst beauftragt diesen Geist: Belüge, betöre den König, sodaß er eine falsche Entscheidung trifft und er seine Strafe bekommen wird! Selbst Gott bedient sich hier eines Geistes, der gar als Lügengeist qualifiziert wird, um seine Ziele zu erreichen.


Diese Geschichte stellt natürlich die Gotteslehre vor große Probleme. Diesem Text kann man aber nicht mehr gerecht werden, wenn Gott eine göttliche Natur unterlegt wird, die ihn so determiniert, daß er unfrei nur gemäß ihr handeln kann. Aber es muß darauf insistiert werden, daß die hl. Schrift die wichtigste Norm für die christliche Gotteslehre ist!Das schließt es aus, nur die einem Bibelleser gefälligen Texte heranzuziehen. Also, wenn Gott schon selbst die Lüge in seinen Dienst stellt, dann kann die Lüge nicht immer eine Sünde sein. Die Folgen eines solchen Rigorismus sind zudem so katastrophal, daß auch der gesunde Menschenverstand diesen Rigorismus als inakzeptabel beurteilen muß. 

 

Corollarium 1

Die rigoristische Gesetzesauslegung-zur Veranschaulichung:Ein Sankafahrer mit einem Schwerverletzten auf dem Wege ins Spital. Muß er sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten. Das rigoristische Urteil sagt: Ja, denn er darf das Gute, hier seinen Beitrag zur Rettung des Schwerverletzten nur unter der Bedingung der Einhaltung dieser bestimmten Straßenverkehrsordnung erbringen. Statt diese Einzelbestimmun so abstrakt zu beachten entsteht das nichtrigoristische Urteil, indem diese Einzelbestimmung der Limitierung der Höchstgeschwindigkeit interpretiert wird als ein Element der Gesamtstraßenverkehrsordnung, die die Aufgabe hat, den Straßenverkehr so zu regeln, daß soweit wie möglich Unfälle und Personenschäden vermeidbar werden. Hielte sich nun der Sankafahrer an die Einzelbestimmung abstrakt, er führe nicht schneller als es erlaubt ist, verstieße er gegen die Gesamtstraßenverkehrsordnung, der Intention, Personenschäden so weit wie möglich zu vermeiden, indem er das Leben des Schwerverletzten durch das Fahren gemäß dieser Einzelbestimmung geährdete. 

Merksatz: Nur das Ganze ist das Wahre. 


Corollarium 2

Letztendlich lautet die Maxime jeder rigioristischen Moral in : Das Gute tuen, auch wenn die Welt daran zu Grunde geht! Hätten alle Kinder Evas und Adams strickt sich an das Inzestverbot gehalten, die Menschheit wäre mit dem Tode des letzten dieser Kinder ausgestorben.  

Corollarium 3

Um von der Maxime: "Der Zweck heiligt die Mittel" wegzukommen, landet so die Moraltheologie in die Gefahr des Rigorismus.

 



 

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