Freitag, 4. Dezember 2015

Tatsachen und Deutungen - oder eine Kritik der biblischen Sicht der Geschichte

"Wie es wirklich gewesen war". das darzustellen ist nach dem bedeutenden Historiker Leopold von Ranke die vornehmste Aufgabe des Historikers. Den Typus des Antihistorikers bilden dann die im Auftrage Stalins die Geschichte der russischen Revolution  umschreiben müssenden Historiker, indem sie den einstigen Helden der Revolution und Gründer der Roten Armee, Trotzki zur Unperson machten, nachdem Stalin ihn zu dem Feind des Aufbaues des Sozialismus im eigenen Lande kürrte. Nein, so soll die wissenschaftliche Geschichtsschreibung nicht vorgehen, sondern sie hat nur auszusagen, was denn wirklich Tatsache war und ist. 
Diese auf den ersten Blick triviale Einsicht in die Aufgabe historischer Wissenschaft zeitigt nun aber für die Bewertung der Qualität der hl. Schrift fatale Konsequenzen, bekannt als die Phrase, daß die Evangelien keine historischen Berichte über das Leben und Sterben Jesu Christi seien, sondern Glaubenszeugnisse. Das muß den Leser des Lukasvangeliums irritieren, bekundet doch der Evangelist im Vorwort zu seinem Evangelium, daß er gerade als Historiker nach sorgfältigster Prüfung der ihm vorliegenden Quellen das Evangelium verfaßt habe, um den Leser "von der Zuverlässigkeit der Lehre [Jesu Christi zu] überzeugen." (Lk, 1,3)Die Historie wird hier von der Lehre von und über Jesus Chrisus unterschieden als der zuverlässige Grund. Aber moderne Historiker sehen das anders, daß nämlich der Evangelist seinen Glauben an  Jesus als den Christus in die Tatsachen hineinprojiziert habe und diese Melange aus Tatsachen des Leben Jesu und Glaubensvorstellungen über Jesus nennen sie dann ein Glaubenszeugnis- eine Darstellung, die gerade so eben nicht mehr korrekt historisch ist im Sinne von Leopold von Rankes.  

Tatsachen und deren Deutung
Veranschaulicht  werden soll dies Problem an einem für die theologische Entwicklung des AT bedeutsamen Ereignisses, dem des Unterganges Jerusalems und Juda 586 v. Chr.   Wir haben eine Tatsache, nämlich das Ereignis der militärischen Niederage und der darauf folgenden Exilierung des Volkes in die ägyptische Gefangenschaft und die Tatsache, daß dies Ereignis theologisch gedeutet wurde  als das Strafgericht Gottes über die Sünde seines Volkes im Rahmen des Bundesschlusses Gottes mit dem Volke Israel. Für das historische Urteil ist nun nur allein das Ereignis der militärischen Niederlage und der Exilierung eine Tatsache, wohingegn die Aussage, daß Gott sein Volk durch diese Niederlage und die darauf folgende Exilierung bestraft habe, eine theologische Deutung der Tatsache ist, die als Deutung nicht ein Bestandteil einer hisorischen Darlegung der Geschichte des Volkes Israel gehört. 

Ungedeutete Tatsachen?
Ist die Aussage, daß Israel 586 eine militärische Niederlage erlitt, eine reine Tatsachenaussage, dem dann mehr oder weniger willkürliche Deutungen dieser Tatsache zur Seite gestellt werden können als Kommentare? Der Kommentar verfügt dabei über verschiedene Vorstellungsräume, in die dann das Ereignis einschreibbar wäre und so erst seine Bedeutung bekäme. Zur Veranschaulichung: "Ich gehe zur Bank", ist eine auf den ersten Blick jedem der Deutschen Sprache Mächtigen eine klare und verständliche Aussage! Aber mitnichten ist dem so. Der Satz enthüllt uns nämlich nicht, ob ich bei dem Wort "Bank" an eine Geldbank oder eine Sitzbank zu denken habe. Las ich vor diesem Satz: "Ich wanderte nun schon mehrere Stunden durch die Stadt, und ermüdet gehe ich zur Bank",wird die Aussage eindeutig. Ganz anders wird der Satz verstanden, liest man davor: "Ich wollte einkaufen, aber ich hatte nicht genug Bargeld bei mir, so daß ich zur Bank ging." 
Der Kontext bestimmt also erst den Aussagewert eine Aussage. So kann die Aussage, es regnet, die Antwort auf die Frage sein, wie ist bei dir das Wetter?, aber auch die implizite verneinde Antwort auf die Frage: Magst du jetzt mit mir spazieren gehen?
Das Ereignis ist nun die militärische Niederlage Jerusalems . Dies Ereignis kann nun in einen polytheistischen oder in einen monotheistisch religiösen Vorstellungsraum eingeschrieben werden. Für Israel war der Monotheismus keine religiöse Selbstverständlichkeit. Es sei erinnert an: "Als der Höchste (den Göttern) die Völker übergab, als er die Menschheit aufteilte, legte er die Gebiete der Völker nach der Anzahl der Götter fest, der Herr nahm sich sein Volk als Anteil, Jakob wurde sein Erbland." (Dtn 32,8) Allen Völkern ist ein Gott zugordnet und Israel der Gott Jahwe, ist die Kernaussage dieses Textes. Der damit bekundete Polytheismus wird dann aber auch schon relativiert durch die Vorstellung. daß es einen  höchsten Gott gibt, der mit Jahwe identifiziert wird und daß dieser sich Israel zu seinem Volk erwäht.

Das Ereignis 586 v. Chr. in einem polytheistischen Vorstellungsraum eingezeichnet
Jahwe war als der Gott Israels in den Krieg gegen seine Feinde gezogen und Israel verlor 586 den Krieg. Für das poytheistische Denken ist selbstredend ein Krieg zwischen Völkern auch ein Krieg zwischen ihren Völkergöttern. Israel und Jahwe hätten diesen Krieg dann gegen den Feind mit seinem Gott verloren. Der Gott des Feindes hätte sich als stärker erwiesen. Im Vorstellungsraum eines naiven unreflektierten Polytheismus liegt diese Deutungsmglichkeit immer nahe  und warum hätte man in Israel das Ereignis der militärischen Niederlage nicht so deuten sollen. Auch gäbe das eine eindeutige Moral von der Geschichte, daß Israel auf den falschen,weil schwachen Gott gesetzt hat. 

Das Ereignis 586 v. Chr. in einem monotheistischen Vorstellungsraum eingezeichnet
Die Gottesvorstellung ändert sich: jetzt kann die Macht des Gottes Israel nicht mehr limtiert vorgestellt werden durch die Macht anderer Götter, sodaß etwas in der Geschichte sich gegen den Willen Gottes ereignen könnte. Gott muß also gedacht werden als ein Gott, der dieses Ereignis, das von 586 v. Chr. gewollt hat, denn es konnte sich nicht gegen den allmächtigen Willen Gottes ereignen.
Die monotheistische Deutung lautet nun: Gott strafte sein Volk  durch die militärische Niederlage. Jetzt ist es auch keine militärische Niederlage mehr sondern Gottes Strafgericht über Israel.

Warum deuten?
Die erste Antwort lautet wohl, daß Tatsachen noch keinen Sinn beinhalten und daß so erst durch die Deutung aus Tatsachenaussagen sinnvolle Aussagen werden. Nur. diese These setzt voraus, daß die Aussage, das sei eine militärische Niederlage gewesen, eine reine Tatsachenaussage sei und daß erst die Aussage, daß es ein Strafgericht Gottes sei, eine Deutung sei. Nur, diese Aussage ist ja selbst wiederum nur das Produkt davon, daß das Ereignis 586 v. Chr. in den Vorstellungsraum des Krieges eingeschrieben wird und von daher seine Deutung erhält. Die 1. These lautet nun, daß es gar keine Tatsachenaussage gibt, die nicht als ihre Voraussetzung die Einschreibung des Ereignisses in einen Vorstellungsraum voraussetzt. Wer sich an seinen Mathematikunterricht erinnert, der weiß, daß die Frage, was ist 2 minus 3 nicht beantwortbar ist, wenn nicht geklärt ist, in welcher Zahlenmenge diese mathematische Operation durchzuführen ist. Ohne die Voraussetzung eines bestimmten Zahlenraumes, etwa der ganzen natürlichen Zahlen ist kein Vollzug irgendeiner mathematischen Operationen möglich. Wir deuten immer, und so ist auch die Aussage, daß 586 Israel eine militärische Niederlage erlitt, eine Deutung in einem vorhandenen Vorstellungsraum. Zu diesem Vorstellungsraum gehören dann zu diesem Ereignis Fragen wie etwa: Lag ein militärisches Versgenn vor, was waren die Ursachen der Niederlage usw...und es kann dann gewechselt werden in den politischen Vorstellungsraum- als Ergänzung: Was waren die politischen Ursachen des Krieges etc.
Ein dem Ereignis zugeordneter Vorstellungsraum ermöglicht so erst eine Diskutierbarkeit des Ereignisses, vom Stammtisch bis zur Expertenanalyse. Man kann drüber reden.
Naiv ist nur die Vorstellung, daß es ungedeutete Ereignsse gäbe, die dann-eigentlich aus historischer Perspektive unnötig- mit "ideologischen/ weltanschaulichen" Deutungen überfrachtet verfremdet und entstellt werden. 
Nur, welchen Deutungsrahmen wir zu wählen haben, das ist nun die entscheidende Frage für Ereignisse der Geschichte. 2. These: Es gibt keinen zwingenden Grund, daß nur Deutungsrahmen ohne die Größe Gott als Handlungssubjkt wissenschaftlich seien! Dies ist eine nicht mehr selbst wissenschaftlich fundierte Vorentscheidung über das, was als wissenschaftlich zu gelten hat. Der Evangelist Lukas versteht sich so rechtens als wissenschafticher Historiker, der nur eben das Vorurteil, daß Gott kein handelndes Subjekt in der Geschichte sein darf, nicht teilt.
Naiv, weil unreflktiert ist aber nun die Vorstellung, daß es für uns so etwas geben könnte, wie einfach die Tatsache, wie es nun mal war.  Unser Denken muß stattdessen sich eine Rechenschaft darüber abgeben, welchen Vorstellungsraum wir zur Deutung des Ereignisses applizieren möchten. Als Theologe muß aber geurteit werden, daß ein Ereignis erst adäquat begriffen ist, wenn es eingschrieben wird in den Vorstellungsraum, in dem alles als von, in und zu Gott begriffen wird.          

                                       

                       

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