Samstag, 29. Mai 2021

Können Konzilien irren- irrte das 2.Vaticanum?


Daß es seit diesem Reformkonzil mit der Katholischen Kirche, zumindest in ihren Kerngebieten, Europa und Amerika nur noch bergab geht in allen Hinsichten, ist nicht wegdiskutierbar, strittig kann nur sein, ob


das „seit“ nur ein zeitliches Hintereinander bedeutet, daß es aber kein Kausalverhältnis zwischen dem Reformkonzil und dem jetzigen Niedergang der Kirche gibt, oder


ob es gilt: obgleich das Konzil sich ereignet hat, zerfällt jetzt die Kirche, oder:


Weil das Konzil so viele Verschlimmbesserungen eingeführt hat, geht es nun mit ihr nur noch bergab.


Die Tatsachen scheinen eindeutig, aber die Tatsachen lassen so drei grundsätzlich verschiedene Interpretationen, die dann noch mannigfaltig varierbar sind, zu. Dem liegt scheinbar ein eindeutiger Text zu Grunde, der dann aber sich in der nachkonziliaren Kirchengeschichte sehr unterschiedlich ausgewirkt haben soll. Ist aber diese Grundannahme eines eindeutigen Textkörpers, aller Texte des Reformkonziles also realistisch? Wer sich an seinen Deutschunterricht erinnert, an die Interpretationsversuche literarischer Texte, wird eines noch gut vor Augen haben: So viele Interpreten, so viele Deutungen. Wurden dann gar noch Sekundärtexte zur Rate gezogen, professionelle Literaturkritiker gar, steigerte das nur die Vielstimmigkeit der Interpretationen ein und des selben Textes. Die Polyinterpretabilität von Texten gehört offenkundig zum Wesen von Texten. Einem rein technisch-funktionalistischem Verständnis von Texten, daß sie Medien seien, durch die der Autor eine eindeutige Botschaft vermitteln wolle, die der Leser dann richtig lesend aus dem Text herauslesen könne, erweist sich so als ein sehr unrealistisches Verständnis von Texten.

Gottes Schöpfung kann als Gottes Urtext verstanden werden, durch dessen Lektüre der Mensch Gott als den Schöpfer und Erhalter von allem erkennen sollte. Das Faktum, daß dieser Grundtext polytheistisch, monotheistisch und atheistisch ausgedeutet wurde im Laufe der Zeiten demonstriert, daß auch dieser Grundtext polyinterpretabel ist.

So kann nun präziser gefragt werden: Wie wurde und wie wird der Text des 2.Vaticanums interpretiert, sodaß er solche Wirkungen zeitigte. Wird nun Luthers Konzilskritik Folge geleistet, steht jedes Kirchenkonzil unter dem Generalverdacht des Irtumes, des Grundsatzes, daß das Sichirren sehr menschlich ist. Diese kritische Verdachtsauslegungsnorm kann nun mannigfaltig variiert und differenziert werden, etwa durch die Vorstellung, daß alle Konzilstexte in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort produziert wurden und so kontextbedingt sind- sie können dann für andere Zeiten keine normative Bedeutung mehr haben. Es zieht ja auch jeder den für Wintertage sehr nützlichen Wintermantel aus, wenn die Frühlingssonne alles erwärmt. Soziologisch Geschulte können dann die hierarchisch verfaßte Kirche als einen Grund annehmen, daß die Texte aus der Perspektive der in der Kirche was zu sagen Habenden verfaßt wurden und so nur deren perspektivischen „Wahrheiten“ ausdrücken, die die „Wahrheit“ der anderen Perspektiven ausschlösse. Es finden sich leicht weitere Varianten der Dekonstruktion des Wahrheitsanspruches von Konzilstexten. Luther setzte den Anfang und dann kam dieser Destruktionsprozeß ins Rollen.

Die Katholische Kirche widersprach Luther: Konzilien können nicht irren, weil der Herr der Kirche so innig mit seiner Kirche verbunden ist, daß er als das Haupt ein solches Abirren der Kirche, seines Leibes nicht zuläßt. Eine in traditionalistischen Kreisen beliebte Interpretation lautet bekanntermaßen nun so, daß die Texte des 2.Vaticanums schwerwiegende Irrtümer enthalte und so diese Konzilsirrtümer wesentlich für den Niedergang der Kirche verantwortlich seien. Dem steht eine andere Diskontinuitätstheorie gegenüber: Ja, das 2.Konzil lehre nicht in Übereinstimmung mit der bisherigen Tradition und das sei gerade das Gute an den Konzilstexten. Dieser Bruch sei nämlich ein Fortschritt in der Entwickelung der Lehre der Kirche, sodaß gälte, daß nur weil die Reformen des Konziles nicht so wie sie ursprünglich intendiert waren, realisiert wurden, die Negativentwickelung einsetzen konnte.

Beide Interpretationen stimmen im Wesentlichen überein, daß die Texte dieses Konziles nicht in der Tradition der bisherigen Lehre der Kirche stünden und daß so entweder die Texte des 2. Vaticanums die bisherigen Texte als nicht mehr gültig entwerten oder aber daß der Bruch mit der Lehrtradition die Texte des Konziles entwerte.

Beide vertreten so die These der Differenz zwischen der bisherigen Lehrtradition und den Gehalten der Reformkonzilstexte. Damit nehmen aber beide Interpretationen einen objektiv lutherischen Standpunkt ein: die einen, daß im Lichte des 2.Vaticanums alle vorherigen Konzilstexte unter den Generalverdacht stehen, keine wahren (mehr) zu sein, sie sind veraltert,ihr Haltbarkeitsdatum sei überschritten, weil sie nicht mehr zum Fortschritt der Zeit passen oder weil sie von Anfang an unwahr waren und die anderen, daß nachdem bisher alle Konzilien nicht geirrt haben, dieses ein Konzil der Irrtümer sein müsse, weil es in einer Diskontinuität zur bisherigen Lehre stünde.

So siegt Luther jetzt in zweifacher Weise über die Katholische Kirche. Eine katholische Auslegung der Texte des 2.Vaticanums müßte nämlich die Interpretationsnorm, daß alle Konzilstexte als sich nicht widersprechende zu interpretieren sind, applizieren. Texte sind polyinterpretabel- einfach vorgestellt: Sie werden mit verschiedenen Brillen gelesen und die aufgesetzte Brille bringt dann die jeweilige Interpretation hervor. Immer werden aber die Texte bebrillt gelesen, perspektivisch gedeutet und so ergibt sich ein Universum unendlich vieler Interpretationen der Texte. Eine Interpretationsnorm hat nun die Aufgabe, zwischen wahren und unwahren Textinterpretationen zu unterscheiden. Da die Katholische Kirche begriffen wird als der Leib Christi, den ihr Herr als ihr Haupt durch den Hl.Geist regiert , gilt die Norm, daß Konzilstexte irrtumsfrei sind. Sie können aber, da sie als Texte polyinterpretabel sind, falsch ausgedeutet werden.

Zur Veranschaulichung ein einfaches Beispiel: Steht ein Architekt vor der Aufgabe, ein 3600 Quadratmeter große Wohnfläche für einen Hausbau zu konstruiere, so könnte er 60x 60 Meter vorschlagen, aber auch -60 x-60 Meter. Beides ergibt dann eine Fläche von 3600 Quadratmetern. Aber für die architektonische Berechnungen sind die Negativzahlen a priori ausgeschlossen, denn -60 Meter lang ergibt da keinen Sinn. Was mathematisch wahr ist, ist für die Architektur eine sinnlose Aussage. Wenn jemand 1000 DM auf seinem Konto hat, und 1100 abhebt, dann ist es sinnvoll zu sagen: -100 DM sind auf seinem Konto. So können auch Texte verschiedene Deutungsmöglichkeiten in sich tragen, wie die Wurzel von 9 sowohl 3 als auch -3 ist, aber bestimmte Kontexte nur positive Zahlen erlauben. So können Texte abstrakt unter der Absehung ihres Kontextes polyinterpretabel sein, aber bestimmte Kontexte, in unserem Falle der Raum der Kirche bestimmte ausschließen durch eine kirchliche Interpretationsnorm.


Der Widerstreit um die Texte des 2. Vaticanums ist so im Kern ein Kampf um das Wie der Interpretation dieser Texte. Hier läßt sich nun leicht nachweisen, daß gegen Papst Benedikt XVI eine Interpretation nach dem Deutungsschema des Bruches die vorherrschende ist, daß die Konzilstexte in einer Diskontinuität zur bisherigen Lehre der Kirche stünden und daß das so auch gut sei, denn die Kirche müsse sich letztendlich selbst überwinden, um noch zukunftsfähig zu bleiben. Diese Selbstüberwindungspraxis verunklart und verdunkelt nun so sehr das Licht der Wahrheit, daß ihr Niedergang damit vorprogrammiert ist. Und der Herr der Kirche? Er läßt diese Verdunkelung zu, weil er als der Herr seiner Kirche seinen Gläubigen nicht determiniert, sodaß sie nicht die Fähigkeit hätten, die offenbarten Wahrheiten zu verschleiern, wie es jetzt insbesondere auf dem „Synodalen Irrweg“ praktiziert wird. Jesus sagte ja selbst in seiner Gleichnisrede vom Weinstock und der Rebe: Ein Glaubensabfall ist möglich, ja Teile der Kirche können von ihm abfallen.


 

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