Sonntag, 30. Mai 2021

Wer bestimmt wie, was die Wirklichkeit ist?- eine Verunsicherung zu gewisser Selbstverständlichkeiten




Ein Mann befestigt an der Eingangstüre seines Hauses ein Hufeisen. Gefragt, ob er denn daran glaube, respondiert er: Nein, aber er habe gehört, daß das Hufeisen auch helfe, wenn man nicht daran glaube.“ S. Zizek erzählt diese Geschichte gern. Dem ähnlich ist dieser Ausspruch: „Ich glaube nicht an Gespenster, aber ich fürchte mich vor ihnen.“ Camilla Brandner, Das Gasthaus der Pirartenbucht, Gespenster-Krimi Bd 67, S. 41.

Beides gibt zu denken. Das Ich, das nicht an die Existenz von Geistern glaubt, dies Ich fürchtet fürchtet sie doch. Ist das nicht absurd? Da glaubt wer nicht an die Wirkkraft an der Türe aufgehängter Hufeisen aber er glaubt, daß sie wirken, weil man sagt, daß sie hülfen, auch wenn man nicht daran glaubte.

Es scheint etwas mit diesem Glauben nicht zu stimmen. Es ist so, als wenn dieser Glaube eine sichtbare Ober- und eine unsichtbare Unterseite besäße, daß oberflächlich nicht geglaubt wird, daß ein aufgehängtes Hufeisen wirkt, aber unterseitig doch. Und so glaubt der andere nicht an Gespenster oberflächlich und die Unterseite glaubt, daß doch die Gespenster zu fürchten seien.

Als Aufgeklärte glauben wir natürlich nicht an Hufeisen und Gespenster, an 13.Freitage, die Unglück bringen, an Seelen von Toten, die als unerlöste herumspuken usw. Nur, vielleicht sind wir uns nicht mehr ganz so sicher, daß die Weltsicht der Aufklärung wirklich die einzig wahre ist, daß es vielleicht doch Dinge geben könnte, die die Aufklärung ausschließt, die es doch gibt, obgleich sie abergläubisch sind.

Man könnte nun fragen, ob im Sinne Wolfgang Welschs gegen seine Intention, die Postmoderne zu begreifen als die Bejahung der Pluralisierung von allem, was aber nichts mit einer Neigung zum Irrationalismus zu tuen habe (vgl: Welsch: Unsere postmoderne Moderne) in postmodernen Zeiten auch irrationalistische Vorstellungen wieder ein Lebensrecht bekommen, daß eben die aufklärerische Weltsicht nicht die einzig mögliche und legitime sei? Wie, um einfach mal couragiert zu fragen, wenn es in der Wirklichkeit doch solch Irrationales gibt, wie zu fürchtende Geister und abergläubische Praktiken, daß eben unsere vernünftige Welt, in der der Aufgeklärte lebt, nur ein Produkt seines aufklärerischen Denkens wäre?

Die größte Gnade auf dieser Welt ist, so scheint es mir, das Nichtvermögen des menschlichen Geistes, all ihre inneren Geschehnisse miteinander in Verbindung zu bringen. Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Unwissens inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt, diese zu bereisen. Die Wissenschaften - deren jede in eine eigene Richtung zielt - haben uns bis jetzt wenig bekümmert: aber eines Tages wird das Zusammenfügen der einzelnen Erkenntnisse so erschreckende Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, daß wir durch diese Enthüllung entweder dem Wahnsinn verfallen oder aus dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters fliehen werden.“1

Dem Schriftsteller Lovecraft verdanken wir diese abgründig tiefe Kritik der vernünftigen Weltsicht. Seine Romane führen uns dann ein in eine ganz andere Welt, einer, in die die Vernunftdogmatik außer Kraft gesetzt wird, indem da das wieder auftaucht, was das vernünftige Denken aus unserer Lebenswelt exkommuniziert hat. Die Romane verweisen uns eben auf die Möglichkeit, daß es mehr und anderes als das Vernünftige geben könnte.

Vielleicht ist in ihnen so mehr Wirklichkeit als in der durch die Vernunft konstruierten Wirklichkeit. Im Sinne des philosophischen Konstruktivismus könnte gemutmaßt werden, daß die Wirklichkeit eine von uns konstruierte ist, um uns vor dem Realen zu schützen.Anders formuliert: Das Irrationale gibt es nur als das vom aufgeklärte Denken Ausgeschlossene.

1Lovecraft H.P., Cthulhus Ruf. In: Lovecraft, H.P., Cthulhu Geistergeschichten, Deutsch von H.C. Artmann, 1972, S. 193.

 

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