Samstag, 30. Dezember 2023

Leben wir in einer mythenfreien und damit wohl auch religionslosen Zeit?

 

Leben wir in einer mythenfreien und damit wohl auch religionslosen Zeit?

Sag mir,wo die Mythen sind, wo sind sie geblieben,was ist geschehn?“ frägt Klaus Kunze in seinem Internetblogg Klaus Kunze am 28.Dezember 2023 und respondiert diese Frage so: „Der Verlust der Kindheit ist unwiederbringlich. Nicht mehr umkehrbar ist auch die Aufklärung über alles Geheimnisvolle, Verborgene, Mythische: Es existiert nur im Kopf.“Es soll nun das Augenmerk auf die Vorstellung von der Kindlichkeit der Mythen gerichtet werden: Solange wir Kinder sind oder die Menschheit sich im Entwickelungsstadium der Kindheit befand, da lebten wir in mythischen Vorstellungswelten, die wir aber dank des wissenschaftlichen Fortschrittes hinter uns lassen als ob wir ihnen entwachsen wären. Nun sollen solche Kindheitsmythen gar nur in unseren Köpfen existieren, was aber die Gegenfrage provoziert, wo denn anders als im Denken, also in unseren Köpfen die Wissenschaften existieren? Auch sonst irritiert diese Aussage, denn die Mythen klären doch das „Geheimnisvolle“und „Verborgene“ auf, nur eben anders als das wissenschaftliche Denken. Wie naturwissenschaftliche Erklärung zum Beispiel die Ursprungsgründe der Welt erklären so erklären die Mythen als Schöpfungsmythen auch den Ursprung der Welt. Die Erzählung der Erschaffung der Welt, wie sie uns das 1.Buch Moses präsentiert, ist eben eine mythologische Erklärung der Welt, die man auch rein naturwissenschaftlich erklären oder durch eine Melange aus beiden Welte rklärungsarten erklären kann.

Eines ist beiden dabei gemein: Das Wo wir leben erscheint uns als erklärungsbedürftig und zur Erklärung sind eben verschiedene Wege beschritten worden, mythologische, metaphysische und naturwissenschaftliche. Eine Differenz ist dabei augenfällig: Mythologische und metaphysische Welterklärungen sind komplexer, denn sie sagen nicht nur aus, wie die Welt entstand, sondern auch welchen Sinn und Zweck sie hat, was sein soll und was nicht und wie wir Menschen in ihr zu leben haben. Verglichen damit sind naturwissenschaftliche Erklärungen unterkomplex und somit ergänzungsbedürftig.

Folgt man nun der Anregung des postmodernen Philosophen Lyotard, der von der konstitutiven Bedeutung der großen Erzählungen für die Moderne spricht, vgl: „Das postmoderne Wissen“, ist der Diskurs der Moderne von den großen Narrativen der Geschichte als eine des Fortschrittes bestimmt. Die so die Moderne fundierenden Narrative sind somit nichts anderes als moderne Mythologien, die das leisten, was sonst religiöse Erzählungen als Mythologien leisten: Sie verwandeln die Einzelereignisse, ja das Ganze in ein sinnvoll Erzähl- und Erklärbares. So soll die Geschichte der Menschheit ein einziger Weg aus einer selbstverschuldeten Unwissenheit zu einem immer Mehr an Klarheit und Vernunft sein. Die USA leben aus dem Mythos des „Wilden Westens“, das ist ihre Erzählung, von der her sich das gesellschaftliche Leben fundiert. Die Demokratie in Westdeutschland und jetzt in dem wiedervereinten Deutschland lebt von dem Narrativ des leicht von Extremisten manipulierbarem deutschen Volke, sodaß diese Demokratie im Zweifelsfall vor dem Volke zu schützen sei. Auch solche Narrative könnten noch unter den Begriff der Mythologie subsumiert werden als kleinere, da ihre Reichweite, was sie erklären sollen, limitierter ist als in den großen Erzählungen, die Lyotard vor Augen hat.

Es stellt sich so eher die Frage, ob wirklich eine Kultur ohne jegliche Narrative auskommt, oder ob sie wohl eher nur dann einige durch andere substituiert als daß sie wirklich mythologiefrei sein könnte. Den untergegangen sozialistischen Staaten war ihre mythologische Fundierung im Marxismus-Leninismus leicht ansehbar, aber das besagt nun nicht, daß die westliche Gesellschaftsordnung mythenfrei wäre. Man könnte etwa die Menschenrechtsideologie als das mythologische Fundament der westlichen Wertegemeinschaft bezeichnen: Wie legitimiert sich denn diese Menschenrechtserklärung anders als durch einen mythologischen Begriff des Menschen, dem ob seiner „Natur“ Rechte, unveräußerliche zuständen?

Der Begriff des Mythos, der Mythologie scheint hauptsächlich nur noch in diskriminierender Intention verwendet zu werden, um seine eigene Position dann als nichtmythische zu legitimieren. Bekanntermaßen lieben ja auch immer nur die Anderen Kitsch, man selbst aber verehrt nur die wahre Kunst. Spätestens seit Adornos und Horkheimers Kritik der aufklärerischen Vernunft sollte man aber zumindest in Betracht ziehen, daß die mythologische Rede selbst eine Art der Aufklärung ist.

Für die Theologie etwa verhindert eine vorurteilhafte Abneigung gegen jegliche Mythologie eine positive Rezeption der exegetisch gut fundierten Erkenntnis zumindest einer Geistesverwandtschaft zwischen dem gnostischen Erlösermythos und der Christologie des Urchristentumes, isb des Johannesevangeliumes durch R.Bultmann. Diese Erkenntnis müsse eben falsch sein, da die christliche Religion nichts mit Mythologien gemein habe. Sinnvoller ist wohl die These, daß jede Religion auch immer Mythologisches in sich enthält, da der Mythos zur Religion dazugehört. Daß die ganze Menschheit sich einem ersten Menschenpaar verdankt, ist nun mal eine rein mythologische Vorstellung und sie muß eine solche sein, da in ihr das Woher des Menschen erklärt wird,daß in allen Erzählungen der Geschichte, der Geschichtswissenschaft also immer schon vorausgesetzt wird. Der Anfang des Menschen, daß er ist, gehört so selbst nicht in die Menschheitsgeschichte, sondern fundiert sie erst als eine vorgeschichtliche Begebenheit, als ein Mythos.





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