. Irrweg - der Genderismus - ein Auszug aus meinem Buch: "Der zensierte Gott"
(Meinen Lesern mute ich hier viel Text zu, aber knapper läßt sich eine Kritik nicht darlegen, wenn sie wirklich fundiert sein soll!)
A. Camus eröffnet sein Kapitel „Die metaphysische Revolte“ mit dem Satz: „Die metaphysische Revolte ist die Bewegung, mit der ein Mensch sich gegen seine Lebensbedingung und die ganze Schöpfung auflehnt. Sie ist metaphysisch, weil sie die Ziele des Menschen und der Schöpfung bestreitet.“[1] Um das Besondere der metaphysischen Revolte im Kontrast zur sozialen Revolte zu unterstreichen fügt er hinzu: „Der Sklave protestiert gegen das Leben, das ihm innerhalb seines Standes bereitet ist, der metaphysisch Revoltierende gegen das Leben, das ihm als Mensch bereitet ist.“[2]
Wir verstünden den Genderismus völlig falsch, sähen wir in ihm nur eine frauenspezifische soziale Revolte mit dem Ziel einer Verbesserung der Lebensbedingungen für Frauen. Dann wäre die Eröffnung eines Genderzenters durch den EKD-Vorsitzenden Schneider eben nur eine weitere Bereicherung des sozialen Engagements des Protestantismus, das die Katholische Kirche ruhig nachahmen könnte. Nur, wer sich an das unsägliche Antifamilenpapier der EKD erinnert, der wird wohl argwöhnisch fragen: Ist das wirklich so eine unschuldige Sache mit den Genderstudies? Wird hier ein Geist in das Christentum hineingelassen, den, hat man ihn erst mal gerufen, man nicht mehr zu beherrschen weiß, den Geist einer metaphysischen Revolte, die das Christentum so völlig zerstört? Der Verdacht ist erlaubt. Sichern wir Spuren und Indizien!
Nicht ab ovo, sondern mit den Grundsätzen des Genderismus soll nun die Erörterung dieses Themas eröffnet werden. Beide Grundsätze stammen von Simone de Beauvoir, der Philosophin des französischen Existentialismus, der Lebensgefährten Sartres, einer außergewöhnlich talentierten Schriftstellerin. Die Grundsätze lauten: man wird nicht als Frau geboren sondern dazu gemacht.
Mutterschaft ist heute eine wahre Sklaverei.[3] ( Anbei: es wäre eine eigene Untersuchung wert, den Niedergang des Adels als der einstigen Elite der Völker in einem Zusammenhang mit der in Adelskreisen üblich gewordenen Übergabe der eigenen Kinder von der leiblichen Mutter an Ammen und Gouvernanten zu erörtern.) Auf diesen beiden Grundaxiomen baut dann die Weltanschauung des Genderismus auf. Darum sollen diese Grundsätze nun diskutiert werden.
2.13.1. Der erste Grundsatz
Der erste Grundsatz wird im Genderismus entfaltet durch die Unterscheidung von Gender und Sex als Geschlecht. Das natürliche Geschlecht der Frau wird von dem sozialen Konstrukt des weiblichen Geschlechtes unterschieden. Diese Unterscheidung soll dabei schon der erste Akt der Aufklärung sein, denn es wäre ein Anliegen patriarchalistischen Denkens, das gesellschaftliche Konstrukt der Natur der Frau als die Natur der Frau auszugeben. Etwas geschichtlich kontingent Gewordenes würde so zu einer außergeschichtlichen Natur hypostasiert, zum Wesen der Frau. Die Dekonstruktion dieser Natur der Frau, ihres Wesens ist, so das erste Anliegen des Genderismus. Als postmoderne Gesellschaft „muß sie alles >Natürliche< als bloßes soziales Konstrukt leugnen“, urteilt Lisson[4]. Die Frau soll ihrer geschichtlichen Entfaltung entkleidet werden, um so ganz neu eingekleidet zu werden. Nicht ist so das Anliegen des Dekonstruktivismus ein rousseauisches „Zurück zur Natur“ als dem wahren und unverdorbenem Frausein, sondern es ist nur die Entkleidung der Frau, damit sie nun sich einkleiden kann. Shopping ist angesagt. Sie soll so neu, frei, selbstbestimmt sich kultivieren. Kultur ist so nicht per es ein Negativum. Nur die patriarchalische Kultur wäre rein negativ. Die sich aus dem Patriarchalismus emanzipiert habende Frau soll sich nun erst frei neu erwählen als freies Projekt ihrer Selbstbestimmung. Jedes Rollenbild, jede Vorstellung vom wahren Frausein behindere dabei nur die freie Wahl. Existentialistisch ausgedrückt: Der Wahl der Frau, wie sie sein wolle, dieser ihrer gewählten Existenz geht keine Essenz des Frauseins voraus. Denn jede Essenz limitierte die Freiheit des freien Selbstentwurfes. Darum sollen alle gesellschaftlich bedingten Bilder des Frauseins dekonstruiert werden als Hervorbringungen männlichen Willens der Macht über die Frau. Erst wenn jedes normative Frauenbild aufgelöst ist, entsteht das wahre Reich der Frauenfreiheit: sich frei bestimmen zu können!
Sartre legte diese Grundkonzeption in seinem Essay „Ist der Existentialismus ein Humanismus ?“ prägnant dar. „Wenn der Mensch, so wie ihn der Existentialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen hat. Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen. Der Mensch ist lediglich so, wie er sich selbst konzipiert.“[5] Ab ovo: Der Mensch ist nichts, das und nur das ist seine Freiheit, denn das meint die reine Unbestimmtheit. Nur aus ihr heraus kann sich der Mensch frei, nämlich willkürlich als Projekt entwerfen. Jede Vorstellung von einer Natur des Menschen ist so ein Angriff auf die menschliche Freiheit. Gäbe es einen Gott, dann bestimmte er das Menschsein, das Wesen des Menschen, und er wäre somit unfrei, weil er nun nicht mehr der Kreator seiner selbst wäre. Der Genderismus transformiert diesen sartreschen Gedanken nun um: Die Frau kann nur frei sein, wenn die Gesellschaft, die patriarchalistische, ihr nicht mehr vorschreibt, wie sie als Frau zu sein hat. Der Begriff der Natur der Frau wird so rekonstruiert als Akt des Beherrschungswillens des Mannes: Er will ihr diktieren, wie sie zu sein hat. Der gesellschaftliche Begriff der Frau, ihre Natur ist so das Produkt einer gesellschaftlichen Konstruktion. Es gäbe zwar eine biologische Grundausstattung der Frau, aber dies biologisch-natürliche Geschlecht dürfe nicht verwechselt werden mit dem sozialen Geschlecht der Frau.
Die Frau ist nichts, bevor sie sich selbst zu etwas entwirft, so würde es Sartre formulieren, ist so gesehen noch radikaler, weil dieser Satz selbst noch die biologische Naturbestimmtheit des Menschseins unterlaufen will. Nebenbei: Offenkundig bildet die ockhamistische Gotteslehre, Gott als vollkommene Willkürfreiheit zu denken als potentia absoluta, den ideengeschichtlichen Hintergrund des sartreschen Freiheitsverständnisses. Begrenzt so die biologische Natur der Frau ihre Freiheit? Genau das bejaht Beauvoir in ihrem zweiten Grundsatz: Mutterschaft ist Sklaverei. Solange die Frau noch Mutter sein will, ist sie noch eingebunden in die Natur und durch diese Einbindung unfrei. Erst wenn sie nicht mehr Mutter sein will, ist sie frei. Und das lebte die kinderlose Beauvoir auch vor! Erst wenn die Frau ihre innere Natur, ihr Berufensein zur Mutterschaft überwindet, ist sie wahrhaft frei. Darum gehört zur feministischen Frauenemanzipation der unbedingte Wille zum Recht des Tötens der eigenen ungeborenen Kinder. Es ist bezeichnend, „dass der erste Staat der Welt, der Abtreibungen legalisierte, Lenins bolschewistisches Russland gewesen war.“[6] Der Kampf gegen den einstigen §218 gehört so konstitutiv zum Genderismus dazu. Und in diesem Punkte siegte der Feminismus. Wahrscheinlich sind noch nie im Namen einer Weltanschauung so viele Menschen getötet worden wie im Namen des Feminismus. Kommunisten und Nationalsozialisten töteten wohl weniger Menschen als Feministinnen Kinder abtreiben und töten ließen und lassen!
Es gibt einen abgründigen Zusammenhang zwischen Sartres Rechtfertigungsversuche des stalinistischen Terrors und des Ja der feministischen Beauvoir zum Kindermord, zur Abtreibung verharmlost. Somit ist der Feminismus gerade in seiner genderistischen Ausgestaltung eine metaphysische Revolte gegen die Natur der Frau. Aber es ist auch ein Aufstand gegen das Leben: werden keine Frauen mehr Mütter, stirbt das menschliche Leben aus.
2.13.2. Das natürliche und das gesellschaftliche Geschlecht der Frau
Der als Frau geborene Mensch verfüge über eine natürliche geschlechtliche Grundausstattung. Das wäre sein natürliches Geschlecht. Dann gäbe es darauf aufbauend noch das soziale Geschlecht der Frau. Das ist das, wozu die Frau durch die Gesellschaft in Gestalt ihrer Eltern, des Kindergartens und der Schule gemacht wird. Wer auch immer noch die Frauwerdung mitprägt, man denke an die Massenmedien, aber auch an das soziale Umfeld, eines fällt ad hoc ins Auge: Die Frauwerdung der Frau wird in diesen sozialkritischen Ansätzen sehr einseitig gesehen. Die Frau wird gemacht durch die Gesellschaft. Das Spezifische, daß die Frau auch das Subjekt ihres Werdens ist, wird dabei weitestgehend ausgeklammert. Dies evoziert die kritische Anfrage: Könnte es denn nicht sein, daß dem Zur-Frau-Machen der Gesellschaft ein Zur-Frau-Werden-Wollen der Frau entspricht? Implizit wird hier ein Widerspruch hineingelesen zwischen dem, was die natürliche Natur der Frau ausmacht und dem, was die Gesellschaft aus der Frau macht.
So müßte ein im Geiste des Genderismus Urteilender sagen, daß wenn Mädchen lieber mit Puppen und Buben lieber mit Autos spielen, dieses nichts mit der Natur der Mädchen und Buben zu tun habe, sondern ausschließlich ein Produkt der geschlechtsspezifischen Erziehung wäre. Gäbe es die nicht, spielten Jungen auch gerne mit Puppen und Mädchen mit Werkzeugkästen. Sieht man kleine Mädchen mit lackierten Fingernägeln und Schmuck, dann sind die Eltern oder die Gesellschaft daran schuld und nicht etwa die ewige Natur der Frau, die den Blick in den Spiegel sucht: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Lande?“ Der einstige Mao-Einheitslook für Frauen und Männer wäre so das Paradies auf Erden für Genderisten: Frauen, die nicht mehr als Frauen erkennbar sind!
Aber wie begründet der Genderismus, daß die soziale Natur der Frau das ihr gesellschaftlich zugeschriebene Frauenbild der biologischen Natur der Frau widerpricht? Solange wir noch so fragen, denken wir die Natur, die biologische als die Norm für das Soziale. Es läge dem ein romantischer Rousseauismus zugrunde: die gute Natur und ihre Korruption durch das Soziale. Sartre weist uns da aber in eine andere Richtung. Seit Humes Kritik am naturalistischen Fehlschluß, daß das, was ist, uns sagt, was sein soll, wissen wir, daß das, was ist, nur das Material unseres Gestaltungswillens ist. Die Natur ist nur noch der Rohstoff unseres Gestaltungswillens. Unser Wille sagt, was sein soll, und er verfügt dann so über die Natur, daß sie demgemäß gestaltet wird. Sartre mißt so der Natur keinerlei normative Größe zu. Das übernimmt der Genderismus. Das ist auch nur verständlich. Es ist ein Leichtes darzulegen, daß gerade das traditionelle Frauenbild, das sie primär als Mutter und somit als Ehefrau sieht, der biologischen Natur der Frau entspricht. Wir wissen: Die Natur kennt nur einen Willen, den der Arterhaltung. Dem ordnet sie das Individuum unter: Es ist nur um der Arterhaltung willen. Die Natur ist so gesehen sehr konservativ ausgerichtet: Arterhaltung ist ihr oberstes Ziel. Das Leben ist dabei beständig bedroht im natürlichen Kampf aller gegen alle.
Nur, von all dem will diese Weltanschauung nichts mehr wissen. Die Naturvergessenheit des Genderismus zeichnet sie als typisches Phänomen der Großstadtkultur aus. Es sei hier en passant an die immer noch lesenswerte Darstellung Oswald Spenglers „Die Seele der Stadt“ erinnert. „Der letzte Mensch der Weltstädte will nicht mehr leben, wohl als einzelner, aber nicht als Typus, als Menge; in seinem Gesamtwesen erlischt die Furcht vor dem Tode. Das, was den echten Bauern mit einer tiefen und unerklärlichen Angst befällt, der Gedanke an das Aussterben der Familie und des Namens, hat seinen Sinn verloren. Die Fortdauer des verwandten Blutes innerhalb der sichtbaren Welt wird nicht mehr als Pflicht dieses Blutes, das Los, der Letzte zu sein, nicht mehr als Verhängnis empfunden. Nicht nur weil Kinder unmöglich geworden sind, sondern vor allem weil die bis zum äußersten gesteigerte Intelligenz keine Gründe für ihr Vorhandensein mehr findet, bleiben sie aus.“[7] Das ist nach Spengler das Besondere der Stadtkultur. Offenkundig ist der Genderismus eine Gewächs, ein recht unansehnliches zumal dieser Asphalt- und Betonkultur.
Nicht bildet also die biologische Natur der Frau den normativen Gegenpol zum sozialen Konstrukt der Frau. Nein, diese frauliche Natur soll geradezu entwertet werden zum Rohmaterial der freien Selbstbestimmung der Frau. Sie will nur noch ein Projekt sein, ein Selbstentwurf. Für einen solchen Selbstentwurf wäre eine normative Natur nur eine unzumutbare Einschränkung. Ja, jedes normative Frauenbild verkleinerte die Freiheit der Frau, sich frei zu entwerfen. Sartre: „Der Mensch ist zuerst ein Entwurf, der sich subjektiv lebt“.[8] Nur drängt sich nun ein gravierendes Problem auf: Wenn es keine normativen Kriterien zur Prüfung eines Entwurfes der Selbstbestimmung von Frauen gibt, wie und mit welchem Recht wird dann das jetzige sozial konstruierte Frauenbild kritisiert? Es bliebe nur die reine Formalität, daß das gesellschaftlich konstruierte Frauenbild nicht eine Hervorbringung ungebundener Subjektivität von Frauen sei! Nur weil das Frauenbild ein soziales sei, widerspräche es dem Ideal der Selbstbestimmung. Nimmt man dies Argument ernst, wird die Frau und überhaupt der Mensch nur ein freies Wesen werden können, wenn er asozial, außerhalb jeder Gesellschaft lebte. Denn jede Gesellschaft bringt Rollenbilder hervor, geschlechtliche von Mann und Frau, soziale von Lehrer und Schüler, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, beliebig ergänzbar, die so die jeweilige Freiheit der Menschen auflösten, weil sie keine freie Selbstbestimmung mehr zuließen. Wußte Aristoteles noch, daß der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen ist, so wird im Genderismus das Soziale zum Feind der individuellen Freiheit. Jede Frau habe das Recht, sich so zu bestimmen, wie sie es möchte ohne jede Rücksicht auf das Sozialwesen, in dem sie lebt. Zugleich fordert diese asoziale Selbstbestimmung aber, daß sie unbedingt von der Gesellschaft bejaht bzw. akzeptiert werden muß. So reduziert sich die Kritik an der sozialen Konstruktion des Frauenbildes auf die These, daß, weil es sozial ist, es nicht individuell ist, und nur individuelle Entwürfe des Frauseins entsprächen dem Ideal selbstbestimmten Lebens.
2.13.3. Die Revolte wider Gott
Sartre erfaßt das widergöttliche Anliegen des Genderismus treffend: Wenn es einen Gott gäbe, dann hätte dieser Gott als Schöpfer dem Menschen eine Natur gegeben, und die wäre dann normativ für den Menschen. Meiner Wahl, also meiner Existenz ging die Essenz meines Menschseins voraus, und diese normierte meine Selbstbestimmung. Soll dagegen meine Selbstbestimmung ein reiner Freiheitsakt sein im Sinne von Willkür, dann darf meiner Wahl keine normative Vorgabe vorangehen. Eine von Gott geschaffene Natur, die mir sagte, wie ich sein solle, verhindert eine freie Selbstbestimmung unter der Prämisse, daß ich Freiheit als Willkür verstehe. So revoltiert der Genderismus gegen den Schöpfergott, indem er die von Gott gewollte Unterscheidung von Mann und Frau beseitigen will! Der Genderismus kämpft so gegen die Natur der Frau wie gegen die Natur des Mannes. Denn die natürlichen Unterschiede von Frau und Mann und die darauf aufbauende soziale Differenz von Frau und Mann sind ja die Schöpfungsordnungen Gottes, die Gott gab, damit menschliches Leben ermöglicht wird und gelingen kann. Der Archetyp aller menschlichen Revolutionen gegen Gott bildet ja der Aufstand der Rotte Korach wider die gottgewollte Hierarchie mit den Parolen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bzw. politisch korrekter: Geschwisterlichkeit. Die ihm nachfolgenden Revolten, von Luther über die Französische Revolution bis zum Genderismus sind so gesehen nur Mutationen dieses Urbildes der Revolte wider Gott und seine Ordnung.
2.13.4. Die Sexuelle Revolution
Oberflächlich betrachtet ist die sogenannte sexuelle Revolution ein Produkt des Scheiterns des orthodox-marxistischen Klassenkampfkonzeptes: Als das Subjekt der erlösenden Revolution, die Arbeiterklasse unter Führung von kommunistischen Avantgardeparteien die Hoffnung Linksintellektueller nicht erfüllte, brachte u.a. Max Reich die These auf, daß das Fundament der bürgerlichen Gesellschaft die Unterdrückung der Sexualität sei, und daß darauf aufbauend erst der Widerstreit von Kapital und Arbeit sich formiere. Deshalb müsse, wer die bürgerliche Gesellschaft revoltieren wolle, die Sexualität aus dem Gefängnis der bürgerlichen Gesellschaft befreien. Das war sozusagen der revisionistisch-marxistische Grundsatz der Kampagne der Sexuellen Revolution. F. Engels sagte: „In der Familie ist der Mann der Bourgeois und die Frau repräsentiert das Proletariat.“[9] Der Kampf um die Befreiung der Sexualität verband sich mit dieser marxistischen Familienkritik und wurde so zum Kampf wider die Familie. So urteilt Popov: „Das traditionelle Familienleben und die Religion waren die hauptsächlichen Träger der alten Kultur. Deswegen war die Politik der Befürwortung von Abtreibung eines der Instrumente der gewünschten vorrevulutionären Zerstörung der russischen Familie und der russischen Kultur.“[10]
2.13.5. Die Technik als unser Schicksal?
Nur, so wird die Tiefgründigkeit dieser Bewegung übersehen. Kaprizieren wir uns auf das Hauptproblem. Es ist die Abtrennung der Sexualität von der Fortpflanzung. Die Technik ermöglichte dies, sodaß es zum Regelfall wird, daß Sexualität gelebt wird unter dem Ausschluß der Möglichkeit, daß durch die gelebte Sexualität Nachwuchs entsteht. Die Pille und die vielen anderen Verhütungmittel erlauben es, Sexualität zu leben, ohne daß Nachwuchs entstehen kann. Ja, es bedarf jetzt des besonderen Willensentschlusses der Partner, auf die Verhütung zu verzichten, damit ein Kind entstehen kann. Die Technik, wenn man will, der technische Fortschritt ermöglichte erst diese Trennung von Sexualität und Fortpflanzung. Die Natur des Menschen wird somit durch diese Technik überlistet. Erfand die Natur den Lustgewinn beim Fortpflanzungsakt, damit die Menschen sich fortpflanzten - würde der Mensch sich nur motiviert durch die Einsicht in die Pflicht zur Fortpflanzung zur Arterhaltung fortpflanzen, er wäre wohl längst mangels Nachkommen ausgestorben - so trennt nun die Technik den Akt der Fortpflanzung mit seinem Lustgewinn von der Frucht der Fortpflanzung, dem Nachwuchs. Jetzt, wo der Gebrauch von künstlichen Verhütungsmitteln zur Regel geworden ist, erscheint auch die Sexualität als etwas Selbstzweckliches, das nur um des Genusses willen praktiziert wird. Das wiederum legitimiert alle Arten praktizierbarer Sexualität, bereiten sie den Praktizierenden nur Lust. Das ist der Kern der Forderung der gesellschaftlichen Anerkennung aller sexuellen Praktiken, sofern sie nur alle Beteiligten befriedigt. Daß die Sexualität wesenshaft auf die Fortpflanzung und die Nachkommenschaft ausgerichtet ist, wird in den Zeiten der Verhütungsmittel nur noch zum moralischen Appell. Faktisch ist diese Ausrichtung beseitigt. Faktisch gab es vor den technisch-künstlichen Mitteln der Verhütung von Schwangerschaften Methoden der Verhütung, so etwa die Propagierung des Analverkehres durch den Radikalaufklärer Marquise de Sade, aber erst durch die Omnipräsenz der künstlich-technischen Verhütungsmethoden kommt es faktisch zur Abtrennung von der gelebten Sexualität von der Fortpflanzung.
Des Menschen Natur ist es, sein Leben zu verkünstlichen. Diese These soll nun an den Anfang einer tiefgründigeren Erfassung des Wesens des Genderismus vorangestellt und kurz erläutert werden. Der Genderismus ist so gesehen ein Nebenprodukt der technischen Revolution. Ein kurzer Blick auf den zeitgenössischen Menschen reicht, um uns den Grad der Verkünstlichung vor Augen zu führen: von der Brille, als künstlicher Sehhilfe, über die Heizung, die uns vor der Kälte nicht nur des Winters schützt, über die Kleidung, die wir statt der Wärme spendenden Behaarung tragen, bis zu künstlichen Ersatzorganen. Seitdem der Mensch technische Geräte zur Naturbeherrschung entwickelte, wendete er die Technik auch auf sich selbst an. Wir leben nicht natürlich, sondern technisch-künstlich. Der Mensch versteht die Natur als Aufgabe zur Umgestaltung. Nur in Mußestunden meditiert er in der Natur, betrachtet sie genießend. In der Regel ist sie dem Menschen nur ein Rohstoff. Der Schreinermeister sieht ein Stück Holz, und schon betrachtet er es unter der Fragestellung: Wozu kann ich dies Stück verarbeiten? Da wir Menschen selbst ein Teil der Natur sind, machen wir uns selbst zum Rohstoff für eine technische Weiterverarbeitung. So gesehen entspricht es dieser Neigung des Menschen, die Natur und somit auch die eigene durch Technik zu beherrschen, daß der Mensch durch künstliche Verhütungsmittel die gelebte Sexualität von der Fortpflanzung abtrennt. Er entnaturalisiert damit die Sexualität. Sie wird jetzt nur noch um des reinen Lustgewinnes willen praktiziert unter Ausschluß der Hervorbringung von Nachwuchs. Der Mensch überlistet somit mittels der Technik die Vernunft der Natur durch den Lustgewinn die Entstehung der Nachkommenschaft zu sichern. Am Endpunkt dieser Entwicklung werden wir auf eine künstlich unfruchtbar gemachte Sexualität stoßen, die Sexualität wird gelebt unter dem Ausschluß von der Möglichkeit der Entstehung von Kindern und einer künstlichen Fortpflanzung. Das meint, daß die Nachkommen in vitro erzeugt, vom Brutkasten zur Kita kommen ohne natürliche Eltern und ganz und gar mutterlos. Das wäre der Endpunkt der Verkünstlichung des menschlichen Lebens. Wem dies nur als grausige Zukunftsromanphantasie vorkommt, der mag genau hinschauen, wie weit wir schon auf diesem Weg vorangeschritten sind. Es bleibt die bedrückende Frage: Lassen wir den technischen Fortschritt über uns herrschen, oder gelingt es dem Menschen, den Fortschritt selbst im humanen Geiste zu beherrschen? Der Genderismus will die totale Verkünstlichung des Menschen bis dahin, daß Frauen und Männer gleichermaßen durch Kunstoperationen ihr Geschlecht beliebig ändern können. Ich brauche nicht mehr zu sein, wozu mich die Natur bestimmt, also Frau oder Mann, weil ich mein Geschlecht dank der Technik künstlich beliebig verändern kann. Lisson bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Warum sind Männer eigentlich Männer, Frauen eigentlich Frauen, Weiße weiß und Schwarze schwarz? Sie müssen es doch nun nicht mehr sein, nachdem ihre >Natur< als etwas technisch Variables verstanden wird, das nur der Zufall als Startbedingung so bestimmt hat, was aber nicht heißt, daß jeder sein Leben lang schicksalshaft an diese Bedingungen gebunden ist.“[11] Die Sexualität wird nun ob der Verkünstlichungstendenz zu einer Quelle reinen Lustgewinnes, weil sie von dem Ziel der Sexualität, dem der Fortpflanzung völlig emanzipiert ist. Dieser durch die Technik ermöglichten Sexualität ohne Fortpflanzung korrespondiert dann die durch den technischen Fortschritt ermöglichte Fortpflanzung ohne Sexualität, die rein künstliche Fortpflanzung. Die Erziehung der künstlich erzeugten Kinder wird dann zur reinen Staatsaufgabe. Das macht dann die Mutterschaft und die Elternschaft völlig überflüssig.
2.13.6. Das soziale Umfeld des Genderismus
Die Weltanschauung des Genderismus hat sich natürlich nicht in einem luftleeren Raum entwickelt. Die Katholische Sozialethik definierte einst als gerechten Lohn, daß der Ernährer der Familie so viel verdiene, damit er davon die Familie, die Frau und die Kinder unterhalten könne[12]. Marxisten meinten, daß der Mindestlohn ausreichen müsse zur Reproduktion der Arbeitskraft als Ware für den Arbeitsmarkt. Das meinte auch die Perpetuierung der Arbeitskraft in der Institution der Familie durch den eigenen Nachwuchs. Denn die Wirtschaft funktioniert nicht ohne genügend Arbeitskräfte, die die arbeitende Klasse selbst hervorbringt als zukünftige Werktätige. Um es ökonomisch auszudrücken: es muß viel investiert werden, bis daß aus der befruchteten Eizelle eine den Ansprüchen des freien Marktes genügende Arbeitskraft hervorgebracht worden ist. Das sind - rein ökonomisch betrachtet - nur Unkosten. Die Internationalisierung des Arbeitsmarktes bringt hierfür die Lösung. In sogenannten Dritte-Welt-Staaten läßt man die Arbeitskräfte von der Geburt an ausbilden, um sie dann in die hoch entwickelten Industriestaaten zu importieren. Die Entwicklungskosten der Arbeitskraft werden so eingespart, sie tragen allein die Entwicklungsländer, unterstützt durch die Entwicklungshilfe. In den entwickelten Industriestaaten dagegen animiert man die Frau, keine Kinder zu bekommen, damit sie einerseits uneingeschränkt dem freien Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und damit andererseits die hohen Kosten der „Kinderaufzucht“ im eigenen Lande vermieden werden. Der Genderismus ist so gesehen die Wohlstandsideologie von Frauen, die die Notwendigkeit des Nachwuchses den Frauen der „unterentwickelten“ Länder aufbürdet, um selbst kinderlos die Früchte der Mutterschaft anderer Frauen zu genießen in Form des Importes von
ausgebildetem Nachwuchs aus den sogenannten Dritte-Welt-Staaten. Denn gerade auch die jetzt kinderlos lebenden Frauen können weiterhin nur leben, wenn irgendwelche Kinder später für sie sorgen, wenn auch nur als Finanzierer ihrer Renten durch Steuerzahlungen! Die Ausbeutung der Bodenschätze der 3.Welt wird so ergänzt durch die Ausbeutung des Kinderreichtumes der 3. Welt. Dort sollen die noch intakten Familien Kinder hervorbringen, damit die hiesigen Frauen sich der Mühe und der Unkosten des Kindernachwuchses entziehen können. Darin manifestiert sich die asoziale Einstellung des Genderismus. Sie will die Willkürfreiheit von einigen Frauen zu Lasten der vielen anderen in den „Entwicklungsländern“. Diese asoziale Einstellung paßt aufs beste in einen von allen sozialen Verpflichtungen sich emanzipierenden Turbokapitalismus, dem Motor der Globalisierung. Damit zeigt sich mal wieder, wie sehr der hl. Vater Franziskus im Recht ist, wenn er immer wieder den Kapitalismus als unsoziale Gestaltung des Wirtschaftslebens kritisiert.
2.13.7. Der radikale Aufstand gegen Gott, der 2. Grundsatz
Ich möchte in loser Anlehnung an Ernst Noltes Diktum von den Widerstandsformen gegen die Globalisierung von den verschiedenen Widerstandsformen wider die Herrschaft Gottes sprechen. Der Mensch revoltiert wider Gott. Die radikalste Widerstandsform gegen Gott ist das menschliche Nein zur Fortpflanzung, zum Leben. Gott schuf den Menschen. Der Gott des Lebens will Leben, und darum setzte er den Menschen als weibliches und männliches Menschsein. So und nur so können sie sich fortpflanzen und somit den Tod natürlich überwinden. Mancher Bibelleser wird vielleicht den göttlichen Imperativ an den Menschen, das erste Gebot, das Gott Frau und Mann gab: „Seid fruchtbar und mehret euch!“ (Gen 1,28) als etwas peinlich empfinden. Hätte Gott den Menschen nicht etwas Geistiges, Höheres anbefehlen können, etwa: Strebet nach der Gotteserkenntnis, lebt heilig? Nein, der Grundauftrag lautet: pflanzt euch fort. Könnten wir nicht einwenden: Das tun die Menschen schon von Natur aus ob ihres sexuellen Fortpflanzungstriebes? Dieser göttliche Imperativ sei so gesehen überflüssig. Eigentlich hätte Gott stattdessen anordnen müssen: Pflanzet euch gemäß der Ordnung der Ehe fort, denn die bloße Fortpflanzung würde sich auch instinkthaft natürlich ohne einen göttlichen Imperativ ereignen! Nur, Gott selbst ordnet dies als seinen ersten Befehl an Mann und Frau an! Können wir dafür einen Grund eruieren? Ja, der göttliche Imperativ sagt, daß es der ausdrückliche Wille Gottes ist, daß der Mensch sich fortpflanze. Simone de Beauvoirs „Nein“ zur Mutterschaft, weil die Mutterschaft die Sklaverei der Frau sei, ist so die radikalste Auflehnung gegen Gott, gegen sein erstes Gebot, daß er als der Schöpfergott das menschliche Leben will und daß es sich darum fortzupflanzen hat. Der göttliche Imperativ impliziert aber noch etwas anderes: daß der Mensch wirklich die Möglichkeit hat, nein zum Leben zu sagen in der Form des Freitodes und zur Fortpflanzung. Der Mensch wird nicht so durch seinen Lebenswillen und seinen Willen zur Fortpflanzung determiniert, daß er sich nicht frei gegen sein Leben und das menschliche Leben stellen könnte. Weil der Mensch Nein zum Leben, zur eigenen Arterhaltung sagen kann, verpflichtet Gott den Menschen durch dies erste Gebot zum Leben und somit zur Arterhaltung durch die Fortpflanzung. Im Timotheusbrief ( 2, 15 ) wird dieser göttliche Imperativ in der Darlegung des Ordo Salutis der Frau noch einmal bestätigt: die Frau werde dadurch gerettet, daß sie Kinder zur Welt bringt und fromm lebt. Die göttlichen Ordnungen der Ehe und des Staates sind so Gottes Ordnungen zum Erhalt und das heißt immer auch zur Fortpflanzung des Menschen angesichts der Bedrohung des Lebens durch den Tod. Der metaphysische Gehalt dieser genderistischen Revolte ist sein Nein zum Leben in der Verweigerung der Fortpflanzung.
2.13.8. Die große Täuschung: das Ideal der Selbstbestimmung
Man könnte nun das Anliegen der Genderstudien reduzieren auf den Imperativ: Da, wo bisher die gesellschaftliche Fremdbestimmung der Frau durch das Konstrukt der Natur der Frau war als normative Vorgabe für die Frau, soll nun die Realität völliger Freiheit der Selbstbestimmung der Frau treten. Jede Normativität, jedes normierende Frauenbild wäre so ein Angriff auf die vollkommene Freiheit der Frau. Nur, zu unserer Enttäuschung: Immer dann, wenn sich nun eine Frau frei dazu entscheidet, gemäß dem traditionellen Frauenbild zu leben und ihr Glück in Liebe und Familie zu finden und nicht im werktätigen Berufsleben, sind unsere Genderisten empört! Eine Frau entscheide sich nur frei, wenn sie sich gegen das traditionelle Frauenbild entscheide. Sonst triebe sie so einen Mißbrauch mit ihrer Freiheit! Die Frau ist so gesehen dazu verpflichtet, sich ihre Freiheit zu bewahren, indem sie, wozu auch immer sie sich positiv entscheidet, sie sich negativ gegen das traditionelle Frauenbild zu entscheiden hat. Sie darf alles sein wollen, nur nicht Frau im klassischen Sinne! Das ist die große Intoleranz des Genderismus.
Im Hintergrund steht dabei die Vergötzung der Erwerbsarbeit durch Karl Marx in seiner These, daß der Mensch sich durch seine Arbeit selbst hervorbringe, moderner formuliert: selbstverwirkliche. Dies gälte aber nur für die Erwerbsarbeit, nicht für die Arbeit in der Familie, für die Frau, deren Beruf die Mutterschaft ist. Sie arbeitet nicht und soll deshalb schnellstmöglich um ihrer Menschwerdung willen in die kapitalistische Wirtschaft integriert werden. Die Frau soll so von der Familie und der Mutterschaft vollkommen emanzipiert werden, damit sie wie der Mann uneingeschränkt der Wirtschaft zur Verfügung steht! Die Frau wird so der Ökonomie geopfert!
Einfach gesagt: wenn unser kleines Madel im Kindergarten, wo nach Meinung nicht nur der katholischen Caritas die Erziehung im Ungeiste des Genderismus anzufangen hat, wenn also unser kleines Madel mit Puppen spielen will, dann ist dort die Hölle los: „So nicht!“ Du mußt jetzt mit Schraubenziehern spielen, damit so früh wie möglich die Umerziehung erfolgversprechend beginnt! Die Kitas und Kindergärten sollen so zu Umerziehungslagern im Geiste des Genderismus werden. Wehe, wenn die Kleinen natürlich bleiben wollen! Das ist der totalitäre Charakter dieser Revolte wider Gott. Es ist bezeichnend, daß die Homosexlobby heute die führende Kraft im Kampf wider die Meinungsfreiheit ist in ihrem Anliegen, jede Meinungsäußerung, die nicht mit ihrer Homosexideologie übereinstimmt, verbieten zu wollen und strafrechtlich zu verfolgen.
2.14. Die Welt ist in Ordnung - warum revoltiert der Mensch gegen Gott?
Wir könnten es uns einfach machen! Gott ist als vollkommen zu denken, und so müsse sein Werk auch vollkommen sein. Wir Menschen lebten in der Welt, die ein vollkommener Gott geschaffen habe, und diese müsse dann auch vollkommen sein. Menschen, die gegen diese Welt und ihre Ordnungen revoltierten, revoltierten so gegen die vollkommene Welt! Aber leben wir denn in einer vollkommenen Welt? Ja, wir leben in der vollkommensten aller möglichen Welten, so dachte es der Philosoph Leibniz, und Schopenhauer protestierte mit seiner ganzen Philosophie gegen diesen leibnizschen Optimismus. Unsensiblen Menschen mögen die Millionen Toten des 1. und 2. Weltkrieges erst ein Argument, ja der Beweis gegen die vollkommenste aller denkbaren Welten sein. Feinfühligeren reicht schon der Anblick eines einzigen unschuldig leidenden Kindes, um mit Karamasoff „Nein!“ zu sagen zu Leibniz Optimismus.[13] Und protestiert nicht schon der Prediger Salomon gegen diese Welt, so wie sie ist? Auch wenn es frommen Ohren unschön in den Ohren klingt: „Alles ist eitel, alles ist nichtig,“ und wie all die Übersetzungen des hebräischen Textes dann auch lauten mögen, unbestreitbar ist, daß der Prediger meinte: „Alles ist Scheiße!“. Das wäre die beste Übersetzung, die die Textintention wirklich trifft, aber so übersetzt niemand, weil man diese Wahrheit dem Bibelleser nicht zumuten will! Wir können weiterfragen: Ist die christliche Religion nicht eine Erlösungsreligion? Sie sagt nicht: „Ich bin in Ordnung, die Welt ist in Ordnung, weil Gott die Welt und mich so geschaffen hat, wie er es wollte, und Gott will nur das Gute und Vollkommene!“
Leben wir wirklich in der besten aller denkbaren Welten? Wäre dann der christliche Glaube das Vertrauen darauf, daß wir in der vollkommensten aller möglichen Welten leben? Wäre dann die göttliche Offenbarung die Aufschließung unserer Augen, daß wir endlich sehen, daß wir in Gottes vollkommener Welt leben? Jesu zerriß den Schleier vor unseren Augen, nur um uns zu sagen, daß wir uns falsche Vorstellungen machten. Alles sei gut, und Gott liebe uns, weil wir, die ganze Schöpfung gut sei! Schlagen wir jetzt die Bibel auf, lesen wir da nicht, daß Gott auf seine Schöpfung schaute und sagte: „Alles ist gut“?
Beginnen wir jetzt mit der Anfangsgeschichte, dem Uranfang. Eine große Erzählung liegt vor uns. Sie erzählt uns, warum die Welt, in der wir nun leben, so ist, wie sie ist, obwohl sie von einem Gott geschaffen worden ist, der vollkommen gut ist. Es wird der Fall der Schöpfung erzählt. Ideengeschichtlich setzt diese Erzählung die Geschichte vom Fall Jerusalems, dem Strafgericht über Israel voraus. Im Exil, vertrieben von ihrer Heimat, gefangen im babylonischen Exil, stand Israel vor der Frage: „Wo war unser Gott, als wir den Krieg verloren und der Sieger uns ins Exil vertrieb?“ Gott selbst strafte sein Volk, weil es gegen ihn gesündigt hatte. Gott ließ den Feind über Israel siegen, den Tempel zerstören und all das Unheil über sein Volk kommen. Das sogenannte deuteronomistische Geschichtswerk, (das Buch der Richter, die Samuel- und die Königsbücher ) erzählen die Geschichte des Volkes Israel nach unter der Frage: Warum strafte Gott sein Volk so? Sie zeigen, daß Gott sein Volk rechtens so strafte, weil er mit diesem Volke einen Bund geschlossen hatte, daß er ihr Gott sein werde, wenn das Volk gemäß Gottes Willen lebt. Was der Wille Gottes ist, das sagt das Gesetz Gottes, und dies Gesetz hat Gott seinem Bundesvolk bekanntgemacht. Der Bund sagt nun, daß Gott unter der Bedingung, daß sie Gottes Gebote und Satzungen halten, ihr Gott sein will. Wenn sie die Gebote nicht halten, dann wird Gott sie strafen, indem er sie aus der Heimat, die Gott ihnen geschenkt hat, vertreiben wird.
Das radikal Neue ist die Radikalisierung dieser Erzählstruktur. Aus dem Land Israel, das Gott seinem Volke zum Erbe gab, wird das Paradies. Aus dem Bund wird das Gebot Gottes für Adam und Eva, aus der Geschichte der Verfehlungen Israels wird die eine Sünde Evas und Adams. Aus der Exilierung wird die Vertreibung aus dem Paradies. Nun wird unser Erdendasein gedeutet als das Leben von Exilierten, wie es in so unüberbietbarer Eindringlichkeit uns das „Salve Regina“ vor Augen malt: „Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas. Zu dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.“ Dies ist für die christliche Religion von eminenter Bedeutung. Jetzt wird dem Menschen seine natürliche Umwelt, sein Sein in der Welt zu einem Sein in der Fremde. Das Lebensgefühl der Weltfremdheit wird geboren. Die Details der Geschichte sind nun zu bekannt, als daß sie hier noch nacherzählt werden müßten. Gott schuf die Welt gut, er setzte den Menschen ein in diese Welt, damit er in ihr lebe. Das Drama der ersten Sünde: Adam und Eva sündigten.
Es soll nun unser Augenmerk auf das gerichtet werden, was wir oft, schauen wir konzentriert auf das Drama der ersten Sünde, überlesen. Die Einzelereignisse sind eingezeichnet in eine strukturierte Erzählung. Erst durch diese Struktur erhalten die Einzelaussagen ihre Bedeutung. Zur Veranschaulichung: Die Aussage „ich gehe zur Bank!“ ist eine für jeden der deutschen Sprache Mächtigen verständliche Aussage. Wer verstünde sie nicht! Aber: Ist damit eine Sitzbank oder eine Geldbank gemeint? Das eine mal ging ich dahin, um mich auszuruhen, das andere mal, um ein Geld abzuheben- also zwei grundverschiedene Handlungen. Liest jemand nur den Satz „ich gehe zur Bank“, ist es ihm unmöglich, erkennen zu können, was unter Bank er verstehen soll, und doch meint jeder, er verstünde diesen so einfachen Satz. Die Fallgeschichte des ersten Menschen ist nun eine hochkomplexe Erzählung, deren Einzelaussagen oft ob des Verkennens der Erzählstruktur so „verstanden“ werden wie die Aussage „ich gehe zur Bank.“
Das Ziel der Erzählung ist der Kontrast von Vorher und Nachher. So schuf Gott die Welt, und das wurde daraus infolge der Sünde Adams und Evas. Die Folge ist nun nicht eine immanente Folge, die aus dem Tun Adams und Evas resultiert, sondern zeigt, wie durch Gottes Strafen Gott selbst die Schöpfung und den in ihr lebenden Menschen änderte, weil er ihn strafte. Der Mensch lebt nicht mehr in den Schöpfungsordnungen Gottes, sondern diese sind verändert worden. Der Mensch, der exilierte, lebt unter dem Fluch und dem Zorn Gottes. Er ist aus Gottes Nähe, dem Paradies, verbannt.
Aber so ist das Wesen dieser Anfangsgeschichte noch nicht erfaßt. Es soll ja nicht eine Geschichte im Strom der Geschichten erzählt werden, die zusammen die eine Geschichte der Menschheit bilden. Im Zentrum steht ja nicht eine Katastrophe im Laufe der Geschichte wie die der Exilierung Israels, sondern der Fall des Menschen in die Geschichte. Im Anfang war das Wort, der Logos, heißt es im Johannesevangelium in seinem ersten Satz. Nicht wird eine Geschichte erzählt als eine unter vielen, sondern es wird erzählt, warum es überhaupt eine Menschheitsgeschichte gibt. Anders gesagt: Wo über die Geschichte nachgedacht wird, drängt das Denken notwendig zur Anfangsfrage fort: Warum ist überhaupt Geschichte? Warum ist nicht nur Natur, sondern im Kontrast zur Natur eine Menschheitsgeschichte, in der das Subjekt Mensch sich zur Natur als etwas von ihm Verschiedenes verhält? Das Subjektsein des Menschen setzt nämlich voraus, daß er sich von seiner Welt distanzieren kann, sie sich zu einem Objekt machen kann, das er sich unterwerfen kann. Eine Menschheitsgeschichte setzt die Zerreißung der Einheit von Natur und Mensch voraus.
Ein Deutungsversuch: Denken wir uns Gott als einen Theaterregisseur. Er entwirft eine Gesamthandlung, ein Drama oder eine Komödie, ein Theater zur Ehre Gottes. Es verlangt nach einer Bühne, die Welt und nach Schauspielern, den Menschen. Gott entwirft die einzelnen Rollen, ihre Charaktere und besetzt sie mit den passenden Schauspielern. Die Gesamthandlung ist sozusagen der Spielplan. Die theologische Sprache nennt das die Vorsehung Gottes. Er teilt Menschen Rollen zu. Das bezeichnet das theologische Denken mit dem Begriff der Prädestination: Gott erwählt bestimmte Menschen zu etwas. Das Gesamthandlungsgefüge kennt nun noch komplexere Handlungssubjekte, etwa Völker und Institutionen wie Staaten und Kirchen, die obgleich sie selbst aus Menschen bestehen, auch eigenständigen Subjektscharakter haben. Das meint einfach, daß sie Träger von Handlungen sind. Sie agieren in der Geschichte. Die Gretchenfrage lautet nun: Gibt es im Raum der Geschichte Kontingenz und Freiheit, oder ist alles durch den göttlichen Regisseur determiniert? Ist Gott als vollkommener Regisseur zu denken, sodaß alles, was auf der Bühne geschieht, genau so geschieht, wie es Gott vorherbestimmt hat? In der Vorstellung des Schicksales leuchtet diese Vorstellung immer wieder auf. „Der Mensch hat nur wenig Mitspracherecht in seinem eigenen Leben. Das Schicksal hat das Sagen.“[14]
Die Reformatoren Luther und Zwingli bejahten dies[15]. Für sie determiniert Gott alles. Luther entfaltet diese Vorstellung einer durch Gott völlig determinierten Welt in seiner Schrift wider den freien Willen und Zwingli in seiner Schrift über die Vorsehung Gottes. Es sind zwei Schriften, die heutzutage nur noch nostalgisch zur Kenntnis genommen werden. Das menschliche Freiheitsbewußtsein revoltiert gegen die Zumutung, sich als von Gott determiniert zu verstehen und so die Freiheit als illusionäre Täuschung zu betrachten. Unsere Sprache und damit unser Denken widerspricht dieser Vorstellung. Zu jedem indikativischen Satz, gestern tat ich dies, kann ich den konjunktivischen Satz bilden, daß ich auch stattdessen etwas anderes hätte tun können. Das Vermögen, in Konjunktiven zu denken, drückt so unser menschliches Freiheitsbewußtsein aus: Es hätte auch anders kommen können! Nur die Vorliebe des wissenschaftlichen Denkens für indikativische Aussagen kann dazu führen, die Möglichkeit, konjunktivische Aussagen zu tätigen, zu vergessen. Luther und Zwingli können deshalb in ihrem wissenschaftlich theologischen Denken keinen Konjunktiv zulassen, und so stirbt die Freiheit. Weil Gott als Vollkommenheit zu denken sei, muß von Gott ausgesagt werden, daß er, gerade so wie er handelt, nur handeln konnte, weil er immer nur das Vollkommenste wollen und realisieren kann. Vor unserem Auge entsteht so ein vollkommenes System, in dem Gott als Erstursache durch sich selbst determiniert alles so wirkt, wie es ist und sich ereignet. Um es mit Zwingli zu sagen: Gott ist als summum bonum zu denken, das, weil es das ist, alles von Anfang an bis zum Ende determiniert, weil er selbst durch sich determiniert ist.
Im vollkommenen System kann es keine Freiheit geben. ( Nebenbei, das ist auch die Einsicht des Philosophen Fichte, der mit seiner Ichphilosophie dem entgehen will.) Das göttliche Theater lief wie eine perfekt programmierte Maschine. In diesem System kann es keine Moral geben, weil es keine Subjekte gibt, die für ihr Tun und Nichttun verantwortlich wären. Verantwortlichkeit setzt nämlich denknotwendig die Freiheit des Subjektes voraus, so oder auch nicht so wollen und handeln zu können. Ein Handlungsträger, von dem nicht ausgesagt werden kann, er hätte auch anders wollen und handeln können, als er gewollt und gehandelt hat, ist im strengen Sinne des Wortes kein Subjekt. Er wäre nur ein Wesen, durch das Gott handelt. Er wäre für Gott nur ein Instrument oder Werkzeug, dessen sich Gott bedient, um die Geschichte zu gestalten. Man könnte die Grunddifferenz in der Rechtfertigungslehre zwischen dem Katholischen Glauben und den Reformatoren zurückführen auf 1 Kor 15,10: Die Reformatoren lesen statt: „Ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle, nicht aber ich, sondern Gottes Gnade mit mir“: Gottes Gnade DURCH mich, und entfernen so das mitwirkende Ich um des „Allein aus Gnade willen.“
Interessanterweise versucht nun auch der antireformatorische Theologe schlechthin, der hl. Ignatius von Loyola, den Menschen von der Last der Freiheit, immer zu wissen, ich könnte auch immer anders als ich jetzt will und handele, zu befreien, indem er die Forderung des Kadavergehorsames einführt in die christliche Frömmigkeit. Der Christ soll zur reinen Passivität werden und nur noch etwas wollen und tun, wenn es ihm befohlen wird. Er soll sich somit freiwillig zum Werkzeug Gottes machen, indem er seine eigene Freiheit verneint. Er kann dies aber nur, indem er seine Freiheit betätigt zur Verneinung seiner Freiheit.[16]
Aber all die Geschichten und Szenen, die wir uns bisher vor Augen geführt haben, setzen doch immer voraus, daß alle Handlungsträger in ihnen frei waren, so oder auch nicht so zu handeln. Gott determinierte Abraham nicht, als er sagte: „Opfere mir deinen Sohn“, es war Abrahams Freiheit, daß er „Ja“ zu Gottes Befehl sagte. Er hätte auch Nein sagen können. Israel hat gesündigt, sodaß Gott es strafte. Aber Israel hätte nicht sündigen müssen und Gott hätte nicht strafen müssen! Wo kommt in ein perfektes System, dem göttlichen Gesamtplan des Theaters mit seiner Bühne, der Welt und seinen Schauspielern die Freiheit hinein? Wie konstituiert sich da eine wirkliche Geschichte? Anders gesagt, daß eben kein perfektes Computerprogramm abläuft, in dem die menschlichen Handlungsträger sich nur einbilden, frei zu agieren.
Die Anfangserzählung will diese Frage beantworten. Es ist die Geschichte von der Freisetzung des Menschen. Gott gab dem Menschen die Freiheit, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Konkreter: Indem er dem Menschen ein Gebot gab, das er erfüllen oder auch nicht erfüllen konnte, setzte er ihn als Freiheit. Er ist kein durch Gott determiniertes Wesen, sondern ein zur Selbstbestimmung befreites Wesen. Die Menschheitsgeschichte, die damit eröffnet wurde, ist dann folgerichtig die Geschichte des Gebrauches und des Mißbrauches dieser Freiheit, und genau das macht das Wesen der Geschichte aus. Und angesichts der Mißbräuche kommt die Freiheit sogar so sehr in Mißkredit, daß man sie theoretisch und praktisch beseitigen will. Theoretisch in allen Denksystemen, die lehren, daß der Mensch nicht das Subjekt seines Wollens und Handelns ist, sondern nur ein Instrument, durch das etwas Anderes will und handelt, der absolute Gott, die Natur, das Schicksal oder wer auch immer und praktisch in allen Versuchen, politisch die Freiheit zu beseitigen. In der Regel beschränken sich die Menschen aber in ihrer Abneigung gegen die Freiheit darauf, dem Mitmenschen verbieten zu wollen, frei zu denken und zu leben wie in der politischen Korrektheitsideologie.
Gott wollte und will aber die Freiheit, weil er selbst frei ist. Das zeigt uns die Ursprungegeschichte. Sie erzählt, wie der zur Freiheit aufgerufene Mensch anfing, Geschichte zu schreiben, indem er seine Freiheit zur Wahl einsetzte, sich für oder gegen das Gebot Gottes zu entscheiden.
Diese Ursprungsgeschichte gehört so selbst nicht in die Geschichte, sondern sie erzählt, wie überhaupt erst Geschichte wurde. Es ist die Gründungsgeschichte der Geschichte und erscheint darum in der Erzählform des Mythos. Dieser Mythos ist nicht eine Vorstufe späterer höher entwickelter Darstellungsformen von Geschichte in der Form der wissenschaftlichen Darstellung, sondern sie stellt als Gründungsmythos der Geschichte das dar, was historisch wissenschaftlich nicht darstellbar ist: den Ursprung, das Davor vor aller Geschichte. Der Mythos ist so als Form die einzig angemessene Darstellungsform dieses Davors.
Einfacher gesagt: Bevor der Vorhang der Bühne sich hebt und das Drama der Menschheitsgeschichte beginnt, konzipiert Gott das Subjekt der Geschichte. Er gibt ihm nicht eine Rolle und einen Charakter, sodaß er dadurch determiniert dann auf der Bühne auftritt und seinen Part spielt, den des Menschen. Sondern der Mensch ist von Gott als Freiheit gedacht und das meint: Er kann und soll sich selbst bestimmen, wie er die Rolle in dem Weltendrama spielen will. Indem Adam und Eva Nein zum Gebot Gottes sagten, entschieden sie sich dazu, als „Neinsager“ in dem Weltentheater aufzutreten. Sie wollten die Rolle des Revolutionärs, des Neinsagers. Und jetzt erst schuf Gott für den Menschen, der als Neinsager existieren wollte, die ihm gemäße Welt.
Von dieser Urwahl könnte das gelten, was Sartre über den Selbstbestimmungsakt des Menschen schreibt: „So bin ich für mich selbst und für alle verantwortlich, und ich schaffe ein bestimmtes Bild des Menschen, den ich wähle; indem ich mich wähle, wähle ich den Menschen.“[17] So könnte dies für unser Anliegen ausgedeutet werden: Gott setzte den Menschen als das Urbild aller Menschen nicht als determiniertes Wesen, sondern als eines zur Selbstbestimmung bestimmtes. In einer Urwahl bestimmte sich der Mensch, und darin bestimmte er das Wesen aller Menschen, insofern das Menschsein das ist, was sich in allen Menschen individuiert und dabei das Wesen des Individuierten ist. Sartre versucht den Menschen als Freiheit zu denken. Er ist nicht wie ein Ding. Sein Sein ist ein von Dingen grundverschiedenes. Sartres atheistische These lautet nun, versimplifiziert: Wenn Gott ist, dann kann der Mensch nicht mehr als Freiheit gedacht werden. Er wäre durch Gott zu etwas Bestimmten geschaffen. Der Mensch wäre aber nur frei, wenn er sich selbst bestimmt, anstatt daß er bestimmt wird. Es soll deshalb hier der etwas kühne Gedanke gewagt werden, daß Gott so sehr die Freiheit liebt, daß er den Menschen wirklich zur Freiheit bestimmt hat.
Sartre sagt, „daß der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert. Wenn der Mensch, so wie ihn der Existentialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist.“[18] Versuchen wir es so zu denken: Wie Gott durch nichts bestimmt ist und nur bestimmt ist, weil und sofern er sich bestimmt, so setzte er den Menschen als sein Ebenbild, auch als reine Unbestimmtheit und damit zum Vermögen, sich zu bestimmen. Für Gottes Selbstbestimmung kann es keine Norm geben, wie er sich zu bestimmen hätte, denn alle Normen, auch die Unterscheidung von Gut und Böse (die praktische Vernunft), Sein und Nichtsein (die theoretische Vernunft) und die Unterscheidung von Schön und Nichtschön (die ästhetische Vernunft) sind ja erst durch Gott gesetzt. Aber Gott setzt für den Menschen diese drei Ordnungen, er setzt den Menschen als sich frei dazu verhalten könnendes Subjekt. Indem der Mensch sich in Hinsicht auf diese Ordnungen selbst bestimmte, definierte, bestimmte er seine Natur. So hätte Gott den Menschen in einer Urwahl sich selbst bestimmen lassen, wie er im Welttheater Gottes auftreten will.
Gott hatte sozusagen eine ideelle Welt geschaffen, wie jeder, der etwas schafft, erst eine Idee von dem entwirft, was er schaffen will. Gott setzte in diese ideelle Welt den Menschen als zur Freiheit bestimmten Menschen, damit er in seiner geschenkten Freiheit sich bestimmte, wie er sein will. Gott hatte für ihn eine Rolle vorgesehen, aber wie er sie ausführen wollte, das überließ er dem Menschen. Indem Adam seine Freiheit zum Neinsagen nutzte, setzte Gott dann die Theaterwelt so, wie sie für diesen so sich bestimmt habenden Menschen paßt. Gott paßte die Theaterwelt dem Charakter des Menschen an, dem er sich selbst gab, indem er sich als Neinsager wählte.
Wir leben jetzt in der gefallenen Welt, der Welt, die Gott dem gefallenen Menschen gemäß umgestaltete. Denn in Adam sagt der Mensch, daß er in Gottes Theater als Ungehorsamer agieren will. Der sündige Mensch gleicht einem Schauspieler, der in permanentem Widerstreit zu seiner Rolle sein Rollenleben führt. Gerade das macht das Dramatische der Menschheitsgeschichte aus. Ohne das Sklavenhaus Ägypten hätte es auch keine Befreiung aus ihm geben können. Ohne die Möglichkeit zum Sündigen gäbe es keine Möglichkeit für ein heiliges Leben. Das Negative muß sein, damit das Positive sein kann. Und somit eröffnete Adams Sünde die Menschheitsgeschichte als einer dramatischen Geschichte. Die kirchliche Tradition spricht hier von der „felix culpa“ des Adam, denn ohne sie wäre Gott nicht Mensch geworden.
[1] Camus, A., Der Mensch in der Revolte, 1983, S. 22.
[2] Camus, A., Der Mensch in der Revolte, 1983, S. 22.
[3] Vgl.: Beauvoir, S., Das andere Geschlecht, 1949.
[4] Lisson, F., Homo Viator. Die Macht der Tendenzen, 2013, S. 59.
[5] Sartre, J.P., Ist der Existentialismus ein Humanismus?, in Sartre, J.P. Drei Essays, 1981, S. 11.
[6] Palko, V., Die Löwen kommen, 1. Auflage 2014 S. 61.
[7] Spengler, O., Der Untergang des Abendlandes 7. Auflage 1983, S. 679.
[8] Sartre, a.a.O. S. 11.
[9] Zitiert nach Palko, a.a.O. S. 34.
[10] Zitiert nach Palko, a.a.O. S. 60.
[11] Lisson, F., Homo Viator. Die Macht der Tendenzen, 2013, S. 60.
[12] Vgl.: Leo XIII., Enzyklika „Rerum novarum“, DH 40. Auflage, 2005, 3271
[13] Vgl.: Dostjewskij, Die Brüder Karamasoff, IV. Kapitel, Empörung.
[14] Cotten, M., Hilfe aus dem Totenreich, S. 25.
[15] Vgl.: Luther, Über den unfreien Willen 1523; Zwingli, Über die Vorsehung Gottes, 1530.
[16] Vgl.: Loyola, I., Constitution der Socitas Jesu, Teil 6, Kap. 1, § 1.; Vgl.: dazu auch A. Rosenbergs Polemik, „Loyolas Constitutionen“, In Rosenberg, A., Der Mythos des 20. Jahrhunderts, 1934, S. 177-182.
[17] Sartre, a.a.O., S. 13.
[18] Sartre, a.a.O., S. 11.
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