Montag, 23. Dezember 2019

Ein prophetischer Text über den zeitgenössischen oder auch zukünftigen Menschen

"Der Mensch aus einem Auflösungszeitalter, welches die Rassen durch einander wirft, der als Solcher die Erbschaft einer vielfältigen Herkunft im Leibe hat, das heisst gegensätzliche und oft nicht einmal nur gegensätzliche Triebe und Werthmaase, welche mit einander kämpfen und sich selten Ruhe geben- ein solcher Mensch der späten Culturen und der gebrochenen Lichter wird durchschnittlich ein schwächerer Mensch sein: sein gründlichstes Verlangen geht danach, dass der Krieg, der er ist, einmal ein Ende habe;" Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 200.
Daß wir in solch einer Zeit der Auflösung uns befinden, in der Zeit einer  "Spätcultur", das ist zu offensichtlich, als daß dies noch begründet werden müßte. 
Daß Epochen, die vor uns waren zu Ende gegangen sind, das christliche Abendland, die bürgerliche Kultur, die Moderne, ist offensichtlich, aber in was für einer Zeit leben wir denn dann jetzt? Der Begriff der Postmoderne bringt das auf den Punkt, daß die Zeit, in der wir jetzt leben, sich noch nicht begriffen hat. Dabei gibt es doch schon bedenkenswerte Versuche, die postbürgerliche Gesellschaft antizipierend zu  begreifen- es sei an Ernst Jünger: Der Arbeiter, Ernst Niekisch, Die dritte imperiale Figur, Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes aber auch an Coudenhove-Kalergi: Adel erinnert. Allen ist gemein, daß sie wie Thomas Mann in den Buddenbrooks das Ende der bürgerlichen Welt vor Augen habend danach fragen:Was kommt danach. Nietzsche erfaßt das Dazwischen, in dem das Alte sich auflöst und das Neue noch nicht da ist mit dem Begriff des Auflösungszeitalters. 
Ein Moment der Auflösungszeit ist das Verschwinden der klaren Herkunftsbestimmtheit, weil nun Subjekte, bestimmt durch verschiedende Herkünfte selbst so zu innerlich Zerrissenen und im Widerstreit mit sich sich Befindenden werden. Dies ruft die Sehnsucht nach neuer Eindeutigkeit und Klarheit hervor, die Sehnsucht nach einem harmonischen Mitsichzusammensein, das die innere Zerissenheit überwindet. Dieser Menschentyp ist nach Außen hin schwach, weil er innerlich mit sich im Widerstreite lebt. Nietzsche skizziert so den postmodernen Menschen in einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft, indem nun das äußerlich sich vorgestellte Neben- und Miteinander in einer so verfaßten Gesellschaft als inneres Problem der Einzelsubjekte der Gesellschaft erfaßt wird. Das Subjekt löst sich selbst auf und wird zum Austragungskampf der äußerlichen Konflikte einer so verfaßten Gesellschaft. Das Individuum wird herkunftslos, unbeheimatet, weil er an einem zuviel an Herkünften und Beheimatungen leidet. 
Nietzsche wie auch Coudenhove-Kalergi, der Vordenker des Europagedankens sehen nun aber auch die Möglichkeit, daß aus diesen Hybridwesen starke Perönlichkeiten sich entwicken könnten, die dann wohl die neuen Herren werden können, der neue Europa beherrschen werdende Adel, so Coudenhove-Kalergi. Aber der Mehrheitsmensch wird dieser in sich zerrissene schwache Mensch sein, eben der Mensch der Auflösungszeit. 
Nur, ist diese Auflösungszeit nicht auch die Geburtsstunde mit ihren Geburtswehen einer neuen Zeit nach der bürgerlichen, der christlich-abendläändischen Kultur? Was für eine Zeit steht uns bevor? Die des letzten Menschen? Erteilen wir noch einmal dem prophetischen Nietzsche das Wort  (Nietzsche, Zarathustra, 6.Kapitel)



Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen.
»Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern« – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.
Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.
»Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Sie haben den Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.
Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!
Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt dass die Unterhaltung nicht angreife.
Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.
Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in's Irrenhaus.
»Ehemals war alle Welt irre« – sagen die Feinsten und blinzeln.
Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen.
Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.
»Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln –


 

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