Sonntag, 21. Juni 2020

“Die Sich-heim-Drehenden“ oder über die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat


Eine eigentümliche wienerische Wendung für den Freitod: Ob diese Formulierung wohl nicht viel mehr aussagt, als sich der sie Verwendende bewußt ist? Das Sichdrehen impliziert einen Richtungswechsel, als wenn sich da ein Mensch von seiner Heimat entfernt hätte und nun retour will.Ist nun der frei gewählte Tod die Heimat oder wird der Tod hier vorgestellt als ein Übergang zurück zur Heimat?
Heimat ist das, woher man kommt, wo man seine Wurzeln hat. Wenn nun autobiographisch zurückgeschaut wird: Wo gab es eine Heimat, in der ein Mensch in oder durch den Tod zurückkehren könnte? Die erstrebte Heimat scheint so eine Jenseitige zu sein, in der ich so noch nie war, sie wäre mir so nur „erinnerlich“ als ein Ort, wo ich noch nie war. Ernst Bloch versuchte so, die Heimat zu bestimmen, allerdings primär aus rein politischen Beweggründen: Er wollte den Heimatbegriff nicht der politischen „Rechten“ überlassen, sondern für die „Linke“ instrumentalisieren, sodaß jetzt dieser Begriff stehen soll für eine politisch zu realisierende Utopie. Aber, gibt das einen Sinn, etwas als Heimat zu bestimmen, wo der Mensch noch nie gewesen ist?
Läge es da nicht näher, die immer schon verlorene Heimat als das (unbewußte?) Leben im Mutterleibe zu charakterisieren als der Heimat, aus der jeder Mensch durch sein Zur-Welt-Kommen herausgeworfen worden ist? Das könnte dann auch anders formuliert werden: daß am Anfang des menschlichen Lebens die Einheit des Kindes mit der Mutter steht, aus der das Kind dann in der Geburt entlassen wird, sodaß es sich dann als Subjekt konstituiert, dem dann eine Welt der Objekte gegenübersteht, in der er nie eins sein kann, weil alle Objekte immer außerhalb von ihm sind, weil sie ihm als Subjekte Nichtiche sind. Dann könnte der Tod als die Auflösung dieser Abspaltung des Iches von allem anderen gedeutet werden. (Wenn ich Bataille in diesem Punkte nicht mißverstehe, vertritt er diese Position in seinem Werk: „Der heilige Eros“.)
Aber wenn das von allem separierte Ich so sich auflöste, wäre das Todsein gar kein Einssein mit allem, weil es ausgelöscht nicht mehr mit etwas eins sein kann. Im Mutterleibe war der Mensch ja schon von Anfang an ein Mensch, nur ein mit seiner Mutter einsseiender.
Wer kann denn durch oder im Tode heimkehren? Der Leib des Menschen, entseelt, wird beerdigt. Soll die Erde, in der er hineingelegt wird oder gar nur der Sarg seine Heimat sein, daß er sich in die Natur wieder auflöst und in der Auflösung und Nichtung beheimatet werde? Theologisch könnte dieser Vorstellung etwas abgewonnen werden, wird die Creatio ex nihilo bedacht, daß er, aus dem Nichts geschaffen, in das Nichts zurückkehrt. Vielleicht ist das der wahre Emergenzpunkt des Nihilismus. Oder sollte bei der Vorstellung des Heimkehrens eher an die Seele gedacht werden, die, um es gnostisch zu formulieren, aus der sie gefangen nehmenden Inkorporierung sich im Sterben befreit, um heimzukehren? Die Weltfremdheit der Seele ist nun allseits bekanntes Thema, sodaß es nahe liegt, diesen wienerischen Begriff in diesem Kontext zu verstehen. Der Seele wäre dann ein Wissen um die Ursprungsheimat eingeschrieben, das in ihr das Begehren nach der Rückkehr zu ihr lebendig ist. Da dies Begehren aber im Leben selbst nicht erfüllt werden kann, entstünde ein permanentes Streben nach Ersatzobjekten, die aber das Begehren nicht erfüllen kann und so das Leben zu einem dauernden Streben nach werden läßt.
In der christlichen Religion würde aber der Freitod das Eingehen in die ewige Heimat, in das ewige Leben verhindern, weil der Freitod als schwere Sünde qualifiziert wird. Das spräche dafür, daß diese wienerische Formulierung nicht christlich ist, oder aber aus einem kirchendistanzierten Milieu stammt.


Eines ist nun noch bedenkenswert: Der Freitod wird in der Regel negativ motiviert gedeutet: Da will jemand ein als nur noch oder überwiegend negativ empfundendes Leben verlassen. Aber wie nun, wenn das zu kurz greift, weil die Entscheidung zu ihm auch positiv motiviert sein könnte, als der Wunsch nach der Rückkehr nachhause.
















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