Dienstag, 2. Juni 2020

Erleben wir eine bürgerliche Revolution?

Erleben wir eine bürgerliche Revolution?- diese Frage wird in einem Video der Internetseite „Gegenstrom“: Im Gespräch mit Frank Kraemer“ (1.6.2020) erörtert. Gemeint sind damit die zahlreichen Proteste und Demonstrationen gegen die staatlichen Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Coronaseuche. Aus theologischer Sicht ist dabei die Frage des in diesen Protesten sich artikulierenden Staatsverständnissses von großer Relevanz, gehört doch die Frage: Was ist der Staat, was macht sein Staatssein, seine Essenz?, nicht nur in den Raum der Philosophie und der Politikwissenschaft sondern primär in den Raum der Theologie.

Auf der Internetseite wird dies Thema so eingeleitet: Bürgerliche Revolution? Man könnte meinen, diese beiden Begriffe schließen sich von vorne herein aus da doch die sogenannte bürgerliche Mitte der Garant dafür scheint, daß sich herrschende Zustände niemals ändern. Doch was ist, wenn genau diese bürgerliche Mitte anfängt, gegen Maßnahmen der Herrschenden auf die Straße zu gehen?

Offensichtlich wird hier das geschichtliche Ereignis der Französischen Revolution vergessen, die ja gerade die bürgerliche Revolution schlechthin ist. Daß heutige bürgerliche Frankreich, wenn das heutige Frankreich noch als bürgerlich begriffen werden kann, verdankt sich dieser Revolution. Das Bürgertum trat so in der Geschichte als die revolutionäre Kraft auf, als der 3.Stand, der die Vormacht des Adels und des Klerus beenden wollte mit der Parole: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Wie jede Revolution wurde auch sie von Utopien vitalisiert, die nach der Revolution enttäuscht werden mußten. Erst diese Desillisonierung evozierte dann im Bürgertum antirevolutionäre Stimmungen, verstärkt durch die Erfahrung des revolutionären Terrors.Zudem sah sich das Bürgertum bedroht in seiner neuen privilegierten Stellung durch die Emanzipationsbestrebungen des 4.Standes, der sich herausbildenden Arbeiterklasse: Wie kann nun die Revolution beendet werden angesichts der Drohung der Fortsetzung der Revolution durch eine antibürgerllich-sozialistische, die dann ja auch in Rußland sich ereignete?
So wurde das Bürgertum antirevolutionär und schuf sich einen bürgerlichen Staat, dem gerade auch die Aufgabe zukam, die bürgerliche Ordnung gegen Revolutionsversuche zu schützen. Zu diesem Staat unterhält nun das Bürgertum in seiner liberalen Ideologie ein paradoxes Verhältnis:
Einerseits muß es den Staat bejahen, denn durch ihn wird die bürgerliche Ordnung aufrechterhalten, ohne ihn implodierte diese Ordnung, andererseits erleidet das Bürgertum den Staat aber immer auch als Bedrohung und faktische Grenze seiner Freiheit.Je weniger Staat, desto mehr Freiheit, aber ohne Staat gibt es überhaupt keine Freiheit. Die bürgerliche Freiheit ist das wechselseitige Anerkennen der Willkürfreiheit, wobei die wechselseitige Anerkennung durch den Staat erzwungen wird, sodaß die Willkürfreiheit zur bürgerlich domestizierten Freiheit wird,
Da der bürgerliche Staat nun die bürgerliche Ordnung aufrecht erhalten soll, muß er sich zum Sozialstaat weiterentwickeln. Für Bismarck war der Kampf gegen die antibürgerlich-revolutionären Bestrebungen nur gewinnbar durch eine Integrationspolitik der Herausbildung des Sozialstaates. Aber genau diesen empfindet nun das Bürgertum auch als eine Begrenzung seiner Freiheit.
Zur Veranschaulichung: Der heutige staatlich fixierte Mindestlohn limitiert die Freiheit des Arbeitgebers, den Lohn frei mit dem Arbeitnehmer aushandeln zu können, (so protestierte die liberal-conservative „Junge Freiheit“ gegen den Mindestlohn als ein sozialistisches Projekt), der Kündigungsschutz limitiert die unternehmerische Freiheit, der Mieterschutz die Freiheit des Vermieters etc.Die liberale Ideologie entwickelt daraus das Konzept des Bureaukratieabbaues als ewige politsche Aufgabe. Denn die Bureaukratie begrenzt so die bürgerliche Freiheit, andererseits muß das staatliche Regieren ein bureaukratisches sein, denn die Alternative wäre eine Willkürherrschaft, in der der despotische Wille allein bestimmt.
Der Idealstaat ist so für den Liberalismus der Nachtwächterstaat als die Alternative zum Ideal des Starken Staates des politischen Conservatismus.

1.These:In der Coronakrise erlebten wir, wie der bundesrepublikanische Staat sich in einen Starken Staat verwandelte. Irritieren muß nun aber, daß trotz der ideologischen Verurteilung des chinesischen Staates im Namen der Wertegemeinschaft aller westlichen Staaten, das Krisenmanagement Chinas zum Vorbild aller westlichen Staaten wurde. Nicht die Europäische Union, nicht WHO sondern der autoritäre chinesische Staat gab den Takt an und fast alle übernahmen das Konzept des Starken Staates. Es ist erstaunlich und nicht komptibel zu den vielfältigen Coronaverschwöruungstheorien, daß a) man sich an diesen „Schurkenstaat“ orientierte und daß b) die Nationalstaaten als die Akteure auf der politischen Bühne auftraten und nicht die EU, oder die UNO oder sonstige transnationale Kräfte. Der Starke Staat war also auch in dieser Coronakrise die Rückkehr des Nationalstaates, ein eigentlich doch schon als überwunden angesehenes Staatskonzept.

2.These: Dieser Starke Staat evoziert nun eine Kritik aus der bürgelich liberalen Ideologie. Der Staat ist nun nämlich das, was er aus liberaler Sicht nicht sein darf: ein Starker Staat, der um des Allgemeinwohles willen, die bürgerlichen Grundrechte einschränken darf. Die Proteste gegen die jetzige Regierungspolitik sind so wirklich genuin bürgerliche Proteste im Geiste des Liberalismus.Sie sind natürlich nicht revolutionär, sondern fordern nur einen bürgerlich liberalen Staat, der den Primat der Ökonomie anerkennt und der nicht in Namen eines fiktiven Allgemeinwohles die bürgerliche Freiheit, die des Geschäftemachens einschränken darf. Denn der Staat ist und hat der Ermöglichungsgrund des Geschäftemachens, des Kaufens und Verkaufens zu sein, zum Schurkenstaat pervertiert er, wenn er diese Freiheit drastisch einschränkt.Genau das tat die Regierung mit ihrem Herunterfahren der Wirtschaft. Wenn marxistische Kritker das Privateigentum als die heilige Kuh des bürgerlichen Staates ansehen, dann wird dabei a) verkannt, daß das Lebenselexier der bürgerlichen Gesellschaft die Ware, das Kaufen und das Verkaufen ist, und daß nur darum dem Privateigentum so viel Wert beigemessen wird, und daß b) der bürgerliche Staat in seiner Möglichkeit zum Starken Staat auch die bürgerlichen Eigentumsrechte einschränken kann und darf, wenn dies das Allgemeinwohl erfordert.

3.These: Die Essenz des Staates ist zu distinguieren von seinen mannigfalltigen Erscheinungsformen. Die Essenz des Staates erscheint in den empirisch wahrnehmbaren Staatsausgestaltungen und muß so aber auch von ihnen unterschieden werden. Der bürgerlich liberal ausgelegte Staat ist so als eine eher deformierte Auslegung der Substanz, der Idee des Staates anzusehen, im Konzept des Starken Staates ist so die Substanz des Staatsseins virulenter, im Willen, alles Einzelne und Particulare auf das Gemeinwohl des Ganzen, des Volkes hin auszurichten, daß der Staat eben ein Volksstaat ist, der so nicht von Particularinteressen, etwa des liberal gesonnenen Bürgetumes usorpiert werden darf.

4.These: Aus theologischer Sicht ergibt sich a) daß der Staat ein Volksstaat zu sein hat ob der Schöpfungsordnung der Aufgliederung der einen Menschheit in die vielen Völker, und daß er b)ein Starker Staat zu sein hat ob der Destruktivität des zum Bösen geneigten Staatsbürgers und c) der Aufgabe des Menschen, seine natürliche Egozentrik zu überwinden, indem er sich als Glied einer Gemeinschaft versteht, aus der und für die er lebt.

Zusatz:
Mehrheit befürwortet geltende Lockerungen der Corona-Maßnahmen
Weiterhin beurteilen die meisten Befragten (56 Prozent) die jetzt geltenden Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen als gerade richtig, 32 Prozent gehen die Lockerungen zu weit und 11 Prozent nicht weit genug. Den Vorschlag von Bodo Ramelow, mit Ausnahme der Maskenpflicht in Thüringen künftig auf verpflichtende Corona-Maßnahmen weitgehend zu verzichten, unterstützen 25 Prozent, eine Mehrheit von 72 Prozent lehnt das ab . Politbarometer Mai II 2020.

Das ist erstaunlich, wenn bedacht wird, wie lange wir nun schon in einer Spaßkultur leben, dessen oberste Maxime lautet: Es gibt nur eine Sünde, keinen Spaß zu haben.

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