Sonntag, 26. Juli 2020

Die Kirche und die ausdifferenzierte Gesellschaft


Ausdifferenzierung ist ein gesellschaftliches Phänomen, daß uns so selbstverständlich geworden ist, daß es gar nicht mehr auffällt. So gibt es das Subsystem der Gesundheit, das dann selbst noch einmal in sich selbst binnendifferenziert ist: die medizinische Forschung, der Berufsstand der Ärzte, die Spitäler und Arztpraxen, die Krankenversicherungen ...und so weiter, faktisch ein sehr komplexes Gebilde. Konstitutiv ist für dies wie für alle anderen Subsysteme, daß sie den Einzelbürger entlasten: Er braucht nicht selbst ein Medizinexperte zu sein, weil andere das für ihn sind. Oder wer könnte mit einem Auto fahren, wenn es keine Autowerkstätten gäbe, wenn jeder Autofahrer so selbst seinen Wagen zu reparieren hätte. Ein Autofahrer muß zwar selbst Autofahren können, aber alle Reparaturen und Prüfungen der Fahrfähigkeiten übernehmen für ihn Autoexperten.
Was ist denn an Ihrem PKW defekt?“ Diese Frage kann ein Autofahrer schon beantworten mit: „So genau weiß ich das nicht...irgendetwas mit dem Motor stimmt nicht!“ Expertensysteme der Gesundheit wie alle anderen beruhen so auf einer Kompetenzdifferenz: Weil einige in einem bestimmten Bereich sich auskennen (etwa im Bereich des Rechtes, der Medizin etc) benötigen andere nur eine spezifische Laienkompetenz. So sollte ich mit Hörproblemen nicht zum Augenarzt gehen und sollte wissen, daß bei eskalierenden Nachbarstreitigkeiten eine Konsultation eines Rechtsanwaltes nützlich sein könnte.
Idealtypisch könnte nun ein Anfangspunkt der gesellschaftlichen Entwickelung konstruiert werden, wo noch jeder alles sein konnte. Denn etwas Bestimmtes zu sein, etwa ein Arzt setzt mit sich, daß man vieles andere dann nicht sein kann, etwa ein Priester oder Rechtsanwalt. So sind wir Heutigen mehr durch das bestimmt, was wir alles nicht sind als das, was wir sind. Dem gesellschaftlichem Reichtum, was ich als Glied einer Gesellschaft alles sein könnte, korrespondiert so damit verglichen ein Minimum, was ich dann real bin. Nie gab es in einer Gesellschaft ein Soviel an Wissen und zugleich ist die Differenz des Gesamtwissens im Kontrast zu dem, was der Einzelbürger wissen kann, so groß, daß wir alle als Einzelne faktisch Unwissende sind. Wir sind fast überall nur noch Laien, denen ihnen nicht zugängliches Expertenwissen gegenübersteht. Das charakterisiert die moderne (wie auch die postmoderne Gesellschaft, nur daß in letzterer dieser Status des Regelfalles des Laiendaseins reflektiert wird.)
Eine der ersten Ausdifferenzierung in der Menschheitsgeschichte dürfte die Herauskristallisierung des Priesterstandes gewesen sein. Weil nun ein Stand sich ganz der religiösen Praxis zuwandte, brauchten die anderen sich nicht mehr auf die religiöse Praxis zu kaprizieren. Im Priesterstand war nun das religiöse Expertenwissen verortet, wurde da weitergegeben und vertieft in der Reflexion der religiösen Praxis im Medium der Theologie. Aber so konstituierte diese Ausdifferenzierung auch den Stand der Laien als Gegenpol zum Priesterstand. Dies darin mitgesetzte Gegenüber muß nun auch als ein das Subsystem der Religion belebendes Moment betrachtet werden, gerade weil es nie ganz konfliktfrei sein kann : Kann der Laie sich darauf verlassen, auf den Priesterstand vertrauen und kann der Priesterstand auf das Vertrauen der Laien ihnen gegenüber auch vertrauen? Wo vertraut werden muß, evoziert dies auch die Möglichkeit des Mißtrauenkönnens. Die gesamte Religionskritik entspringt dem!
Auch die christliche Religion ist durch diese innere Differenz charakterisiert: Dem Allwissenden, nämlich Jesus Christus, standen die Zubelehrenden, die „Jünger“ gegenüber. Dies Gegenüber prolongiert sich nun in der Binnendifferenzierung zwischen dem Bischof und dem Priester in ihrem Gegenüber zum Laien. Der Reformator Philipp Melanchthon sprach so von den 2 Ständen in der Kirche, dem Lehrstand und den Zubelehrenden.
Verkompliziert wird diese Struktur nun noch durch den Primat des Lehramtes Jesu Christi, der der einzig wahre Lehrer seiner Kirche ist, der sich nun durch den Lehrstand der Kirche, isb durch das Papstamt der Welt zu kennen lernen gibt. Dies evoziert geradezu den Einwand von Laien, selbst ein unmittelbares Verhältnis zum einzig wahren Lehrer der Wahrheit zu haben und so keinen Bedarf an dem priesterlichen Vermittelungsdienst zu haben. Ja, der Priesterstand, die ganze Kirche kann so mit dem Generalverdacht belegt werden, die Wahrheit des einzig wahren Lehrers verfälscht zu haben.
Wir leben eben in einer hyperkomplexen Gesellschaft, in der das Wissen nur noch in Expertensystemen präsent ist und jeder, abgesehen von dem Mikroraum, in dem er sich wirklich selbst auskennt auf das Vertrauen auf Expertenwissen angewiesen ist. Man könnte urteilen, daß so komplex strukturierte Gesellschaften das Vermögen ihrer Einzelglieder, Vertrauen zu schenken, überfordert. Das ist dann auch die Stunde der Hochkonjunktur von Verschwörungstheorien, in denen das Expertenwissen als Meer von Pseudowahrheiten entlarvt wird.
Ein Moment der Kirchenkrise resultiert nun daraus, daß das religiöse Laienwissen zur Norm des theologischen Diskurses in der Kirche wird: Was der Laie nicht versteht und nicht hören will, das kann keine theologische Wahrheit sein. Nur, wie es kein Zurück zur ursprünglichen Einheit geben kann, in der jeder alles war, Jäger und Priester und Koch etc...so kann auch diese innerreligiöse Binnendifferenzierung zwischen dem Priester- und dem Laienstand nicht mehr beseitigt werden, weil diese Ausdifferenzierung konstitutiv für jede Kultur ist. 

1.Zusatz:
Problematisch ist nun aber der Stand der Theologen in der Kirche. Sie sind am Expertensystem Partizipierende und doch Laien, sofern sie nicht Diakon, Priester oder Bischof werden.  

2.Zusatz
Die Idee einer "Synodalen Kirche" ist so kulturgeschichtlich gesehen ein regressives Unterfangen, weil so die ursprüngliche Arbeitsteilung mit ihrer Ausdifferenzierung des Religionssubsystemes rückgängig gemacht werden soll. 

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