Donnerstag, 2. Juli 2020

Eine kritische Anfrage an die Sexualmorallehre der Kirche: Was ist der natürliche Mensch?

Oder: Irritierendes über den Menschen: der natürliche und der kultivierte

Eine Aussage, die irritiert: „Die Sexualität ist keineswegs die natürliche Grundlage des menschlichen Lebens,sondern vielmehr genau das Feld,auf dem sich der Mensch von der Natur abkoppelt.“ Zizek, Weniger als nichts, 2014, S.604. Zwischen dem „natürlichen Menschen“ und dem „kultivierten“ ist eine Lücke, etwas, daß die schlichte Vorstellung vom Naturmenschen, der dann durch die Natur erst zu domestizieren sei, in Frage stellt. Nach Zizek gälte diese Anfrage auch Hobbes Vertragskonzeption, daß die Menschen des Naturstandes, im Kriege aller gegen alle sich befindend haben, durch die Bildung des Staates als Gewaltmonopol befreit hätten, daß also erst durch die Gründung des Gewaltmonopolstaates der Mensch anfing, kulturell zu leben.
Der Mensch sei schon, bevor er sich kultiviere aus dem Naturzustand herausgefallen, um es versimplifiziert auszudrücken. Anders gesagt: Indem er frei ist, kann er nicht mehr einfach natürlich leben; seine Triebe und Instinkte beherrschen ihn nicht mehr, sodaß er auch widernatürlich leben kann. „Dem Tierreich ist die Idee der sexuellen Perversion oder der tödlichen sexuellen Leidenschaft vollkommen fremd.“ (S.604)Das, was in der asketischen Literatur gern als Überwindung des Eigenwillens genannt wird (das vorherrschende Motiv etwa der jesuitischen Frömmigkeit),revitalisiert sich hier in der Vorstellung einer ursprünglichen nichtnatürlichen Willkürfreiheit des Menschen, die nun durch die Kultur zu domestizieren sei. Der Kriegszustand aller gegen alle sei so nicht der Naturzustand des Menschen, sondern setzt ihn schon als aus der Natur Herausgefallenen voraus.
Die Kulturwerdung der Sexuaität ist folglich nicht die Kulturwerdung der Natur,sondern der Versuch, einen gänzlich unnatürlichen Exzess der metaphysischen sexuellen Leidenschaft zu zähmen.“ (S.605)Was ist damit erreicht?

Drei Gestalten der Sexualität entstehen so:

a) die natürliche, die nur dem Ziele der Fortpflanzung dient
b) die noch nicht domestizierte des Menschen, erst hier gibt es Sexualität mit ihrer Leidenschaft und
c)die durch die Kultur domestizierte Sexualität, die versucht, die menschliche Sexualität auf die natürliche zurückzuführen.
So wird die kultivierte Sexualität nicht durch die natürlichen Leidenschaften gefährdet, sondern durch diese verdrängte Zwischenstufe der Willkürfreiheit,in der erst der Fortpflanzungstrieb zur Sexualität wird, daß der Mensch sich hierin ganz auf den Lustgewinn kapriziert. Das gälte dann auch für den „Naturzustand“ Hobbes.In Anlehnung an Arnold Gehlen könnte gesagt werden, daß der Mensch ob seiner defizitären Bestimmung durch seine Triebe ein freies Wesen ist, das so seine Freiheit selbst kultivieren muß, damit er sich nicht selbst durch seine Freiheit zu Grunde richtet.Man könnte auch sagen, daß die Willkürfreiheit zur Freiheit in dem Raume der Kultur transformiert werden muß. Aber genau diesem Konzept der kultivierten Sexualität in der katholischen Ausprägung kritisiert Zizek nun als eine Reduzierung der Sexualität auf eine rein „animalische Fortpflanzungsfunktion“. (S.607)Der Mensch entmenschliche so seine ihm eigene Sexualität indem er sie so kultiviere. Gerade in und durch die Ordnung der Ehe würde so eine Renaturalisierung des Menschen versucht.
In was bestünde dann das Besondere der nichtnatürlichen und noch nicht kultivierten Sexualität? Hierauf präsentiert Zizek verblüffende Antworten: Nach Sigmund Freud: Seine Hypothese lautet: „daß der Übergang vom tierischen Instinkt (der Paarung)zur eigentlichen Sexualität (den Trieben) der primordiale Schritt vom physischen Reich des biologischen (tierischen)Lebens zur Metaphysik sei“. Zizek banalisiert diesen Gedanken Freuds dann in der Fußnote 48 (S.606): „Deshalb ist das katholische Argument, dass Sex ohne das Ziel der Fortpflanzung etwas Tierrisches sei, so irrig. Es ist nämlich genau umgekehrt: Sex wird nur zu etwas Geistigem, wenn es von seinem natürlichen Zweck abstrahiert und zum Selbstzweck wird.“ Das Metaphysische reduziert sich ihm auf das Nichtnatürliche.
Platons Anliegen, das Zizek hier ebenfalls zitiert wird so nicht aufgenommen: „Schon Platon war sich dessen bewußt, als er über den Eros, die erotische Zuneigung zu einem schönen Körper als erstem Schritt auf dem Weg zum höchsten Gut schrieb.“ (S.606)
Irritationen, aber für das theologische Denken gut tuende. Tatsächlich wäre eine Reduktion der Sexualität auf das Ziel der Fortpflanzung eine Entmenschlichung des Menschen, aber wenn die Sexualität völlig von der Fortpflanzung entkoppelt würde, würde der Mensch sich zu Engeln transformieren. Die Kultur darf so auch nicht die Nichtung des natürlichen Lebens des Menschen sein, daß er nur durch die Fortpflanzung überleben kann, aber kann sein sexuelles Liebesleben auch nicht auf den Zweck der Fortpflanzung reduzieren. Ein Moment der willkürfreiheitlich gelebten Sexualität müßte so in der kultivierten Gestalt bewahrt werden,daß die gelebte Sexualität, wie Zizek rechtens betont, etwas Geistiges ist und so, auch wenn sie auf den Endzweck der Fortpflanzung hin ausgerichtet ist, auch etwas Selbstzweckliches ist. Ein einfaches Beispiel möge das veranschaulichen: Wer die russische Kultur kennen lernen möchte, kommt nicht umhin, Dostojewski zu lesen, aber wer ihn nur um dieses Zweckes willen läste, wird die russische Kultur nicht kennen lernen, weil er Dostojewskis Werke nur kennen lernen wird, wenn er sie um ihrer selbst willen liest. Dies Lesen muß also, damit es etwas Geistiges ist, selbstzwecklich vollbracht werden.

Nebenbei:
Ich halte neben Peter Sloterdijk Slavoj Zizek für den anregendsten jetzt lebenden Philosophen und auch wenn er seinen Lesern nun wirklich  ganz unzeitgemäß schwerste Kost zumutet, es lohnt sich, ihn zu lesen.  



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