Oder: Irritierendes über den
Menschen: der natürliche und der kultivierte
Eine
Aussage, die irritiert: „Die Sexualität ist keineswegs die
natürliche Grundlage des menschlichen Lebens,sondern vielmehr genau
das Feld,auf dem sich der Mensch von der Natur abkoppelt.“ Zizek,
Weniger als nichts, 2014, S.604. Zwischen dem „natürlichen
Menschen“ und dem „kultivierten“ ist eine Lücke, etwas, daß
die schlichte Vorstellung vom Naturmenschen, der dann durch die Natur
erst zu domestizieren sei, in Frage stellt. Nach Zizek gälte diese
Anfrage auch Hobbes Vertragskonzeption, daß die Menschen des
Naturstandes, im Kriege aller gegen alle sich befindend haben, durch
die Bildung des Staates als Gewaltmonopol befreit hätten, daß also
erst durch die Gründung des Gewaltmonopolstaates der Mensch anfing,
kulturell zu leben.
Der
Mensch sei schon, bevor er sich kultiviere aus dem Naturzustand
herausgefallen, um es versimplifiziert auszudrücken. Anders gesagt:
Indem er frei ist, kann er nicht mehr einfach natürlich leben; seine
Triebe und Instinkte beherrschen ihn nicht mehr, sodaß er auch
widernatürlich leben kann. „Dem Tierreich ist die
Idee der sexuellen Perversion oder der tödlichen sexuellen
Leidenschaft vollkommen fremd.“ (S.604)Das,
was in der asketischen Literatur gern als Überwindung des
Eigenwillens genannt wird (das vorherrschende Motiv etwa der
jesuitischen Frömmigkeit),revitalisiert sich hier in der Vorstellung
einer ursprünglichen nichtnatürlichen Willkürfreiheit des
Menschen, die nun durch die Kultur zu domestizieren sei. Der
Kriegszustand aller gegen alle sei so nicht der Naturzustand des
Menschen, sondern setzt ihn schon als aus der Natur Herausgefallenen
voraus.
„Die
Kulturwerdung der Sexuaität ist folglich nicht die Kulturwerdung der
Natur,sondern der Versuch, einen gänzlich unnatürlichen Exzess der
metaphysischen sexuellen Leidenschaft zu zähmen.“
(S.605)Was ist damit erreicht?
Drei
Gestalten der Sexualität entstehen so:
a)
die natürliche, die nur dem Ziele der Fortpflanzung dient
b)
die noch nicht domestizierte des Menschen, erst hier gibt es
Sexualität mit ihrer Leidenschaft und
c)die
durch die Kultur domestizierte Sexualität, die versucht, die
menschliche Sexualität auf die natürliche zurückzuführen.
So
wird die kultivierte Sexualität nicht durch die natürlichen
Leidenschaften gefährdet, sondern durch diese verdrängte
Zwischenstufe der Willkürfreiheit,in der erst der
Fortpflanzungstrieb zur Sexualität wird, daß der Mensch sich hierin
ganz auf den Lustgewinn kapriziert. Das gälte dann auch für den
„Naturzustand“ Hobbes.In Anlehnung an Arnold Gehlen könnte
gesagt werden, daß der Mensch ob seiner defizitären Bestimmung
durch seine Triebe ein freies Wesen ist, das so seine Freiheit selbst
kultivieren muß, damit er sich nicht selbst durch seine Freiheit zu
Grunde richtet.Man könnte auch sagen, daß die Willkürfreiheit zur
Freiheit in dem Raume der Kultur transformiert werden muß. Aber
genau diesem Konzept der kultivierten Sexualität in der katholischen
Ausprägung kritisiert Zizek nun als eine Reduzierung der Sexualität
auf eine rein „animalische
Fortpflanzungsfunktion“.
(S.607)Der Mensch entmenschliche so seine ihm eigene Sexualität
indem er sie so kultiviere. Gerade in und durch die Ordnung der Ehe
würde so eine Renaturalisierung des Menschen versucht.
In
was bestünde dann das Besondere der nichtnatürlichen und noch
nicht kultivierten Sexualität? Hierauf präsentiert Zizek
verblüffende Antworten: Nach Sigmund Freud: Seine Hypothese lautet:
„daß der Übergang vom tierischen Instinkt (der
Paarung)zur eigentlichen Sexualität (den Trieben) der primordiale
Schritt vom physischen Reich des biologischen (tierischen)Lebens zur
Metaphysik sei“. Zizek
banalisiert diesen Gedanken Freuds dann in der Fußnote 48 (S.606):
„Deshalb ist das katholische Argument, dass Sex
ohne das Ziel der Fortpflanzung etwas Tierrisches sei, so irrig. Es
ist nämlich genau umgekehrt: Sex wird nur zu etwas Geistigem, wenn
es von seinem natürlichen Zweck abstrahiert und zum Selbstzweck
wird.“ Das
Metaphysische reduziert sich ihm auf das Nichtnatürliche.
Platons
Anliegen, das Zizek hier ebenfalls zitiert wird so nicht aufgenommen:
„Schon Platon war sich dessen bewußt, als er über
den Eros, die erotische Zuneigung zu einem schönen Körper als
erstem Schritt auf dem Weg zum höchsten Gut schrieb.“ (S.606)
Irritationen,
aber für das theologische Denken gut tuende. Tatsächlich wäre eine
Reduktion der Sexualität auf das Ziel der Fortpflanzung eine
Entmenschlichung des Menschen, aber wenn die Sexualität völlig von
der Fortpflanzung entkoppelt würde, würde der Mensch sich zu Engeln
transformieren. Die Kultur darf so auch nicht die Nichtung des
natürlichen Lebens des Menschen sein, daß er nur durch die
Fortpflanzung überleben kann, aber kann sein sexuelles Liebesleben
auch nicht auf den Zweck der Fortpflanzung reduzieren. Ein Moment der
willkürfreiheitlich gelebten Sexualität müßte so in der
kultivierten Gestalt bewahrt werden,daß die gelebte Sexualität, wie
Zizek rechtens betont, etwas Geistiges ist und so, auch wenn sie auf
den Endzweck der Fortpflanzung hin ausgerichtet ist, auch etwas
Selbstzweckliches ist. Ein einfaches Beispiel möge das
veranschaulichen: Wer die russische Kultur kennen lernen möchte,
kommt nicht umhin, Dostojewski zu lesen, aber wer ihn nur um dieses
Zweckes willen läste, wird die russische Kultur nicht kennen lernen,
weil er Dostojewskis Werke nur kennen lernen wird, wenn er sie um
ihrer selbst willen liest. Dies Lesen muß also, damit es etwas
Geistiges ist, selbstzwecklich vollbracht werden.
Nebenbei:
Ich halte neben Peter Sloterdijk Slavoj Zizek für den anregendsten jetzt lebenden Philosophen und auch wenn er seinen Lesern nun wirklich ganz unzeitgemäß schwerste Kost zumutet, es lohnt sich, ihn zu lesen.
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