Mittwoch, 11. November 2020

Irritierendes: Verlangen moderne Gesellschaften von dem Bürger ein Zuviel an „Glauben“?

Irritierendes: Verlangen moderne Gesellschaften von dem Bürger ein Zuviel an „Glauben“?

Spontan wird dieser These widersprochen werden, ist es doch eines der Zentralanliegen der Aufklärung, den „Glauben“ durch Wissen zu ersetzen. Einst konnten sich die Menschen das Phänomen des Blitzes nicht erklären und so glaubten sie, daß der Blitz mit den Göttern oder mit dem Gott zu tuen hatte, sodaß gebetet wurde, wenn es gewitterte, jetzt, da wir wissen, was ein Blitz ist, montieren wir einen Blitzschutz aufs Dach und unterlassen so das Beten. Wie vielen geschichtsphilosophischen Konzeptionen liegt diese simple Antithese von Glauben und Religion zu Grunde,daß da, wo ein Mangel an Wissen ist, der Raum des Glaubens diese Wissenslücken auszufüllen hatte, bis daß das Wachstum des Wissens diese Lücken schließt. Vom Mythos zum Logos, von der Religion über die Metaphysik zur Wissenschaft, so klingen diese Narrative der Überwindung des Glaubens.

Unter Zu-Glauben sei hier (vgl Kant) verstanden eine defizitäre Form des Wissens zwischen dem Meinen und dem Wissen verortet. Das Meinen drückt sich am klarsten im Gebrauch des Konjunktives des Zweifels aus: „Ich würde meinen“, das ist ein weder subjektiv noch objektiv hinreichendes Wissen: Ich meine, daß es so ist, es könnte aber auch nicht so sein. Glauben heißt: für mich ist das gewiß aber es ist kein Wissen, daß von jedem andern auch als wahr anzuerkennen ist. Es ist nur ein subjektives Wissen: für mich ist es wahr, aber es ist kein Wissen, daß für jeden als wahr anzuerkennen ist, es ist nicht objektivierbar, als Wissen für alle. Erst das Wissen ist so wahr, daß es den Anspruch auf allgemeine Anerkennung erheben kann.

Moderne Gesellschaften verfügen über sehr viel mehr als mittelalterliche und Steinzeitgesellschaften wäre das Wissen moderner Gesellschaften etwas Unnachvollziehbares. Diese Wissensvermehrung verdankt sich die Gesellschaft dem Prozeß der Ausdifferenzierung. Wo es einst nur einfache Differenzierungen gegeben hat, die des Jägers von dem Sammler, des Priesters von der Kultgemeinde mit dem jeweiligen Spezialwissen, zeichnen sich (post)moderne Gesellschaften durch eine fast unbegrenzte Vielzahl von Expertensystemen aus, in der das dortige spezifische Wissen weitervermittelt und permanent erweitert wird. Das gesamtgesellschaftliche Wissen ist so groß geworden, daß es keine universalgebildeten Menschen mehr geben kann, es kann nur noch Expertensysteme geben, wobei ihre Teilhaber, sobald sie außerhalb ihres Systemes zu agieren haben, auch nur noch Laien sind. Nie war das Individuum im Vergleich zum vorhandenen Wissen des Gesellschaft so unwissend wie jetzt. Wissender ist der moderne Mensch im Vergleich zum mittelalterlichen, aber die Differenz an Wissen zwischen dem gesamtgesellschaftlichen Wissen und dem der Individuen war damals geringer.

Fährt das Auto nicht mehr richtig, vertrauen wir es zur Reparatur einer KFZ-Werkstatt an, denn da wird das auf dem Fundament von Wissen gekonnt, was der durchschnittliche Autonutzer nicht kann: das Auto reparieren. Die Gesundheit wird Ärzten als Teil des Gesundheitssystemes anvertraut, besondere Probleme dem Facharzt usw. Überall agiert der moderne Mensch als Laie, der sich Expertensystemen anzuvertrauen hat, weil sein Wissen nicht ausreicht; er muß nur wissen, welche Institution für was zuständig ist oder er informiert sich über die Zuständigkeiten. Mit welcher Haltung hat so der Bürger sich den Expertensystemen gegenüber zu verhalten, damit moderne Gesellschaften in ihrer vielfältigsten Ausdifferenzierung noch funktionieren können? Er muß den Expertensystemen vertrauen, ihnen Glauben schenken. Ich kann nicht erkennen und wissen, ob die vom Arzt mir angeratene Therapie die richtige für mich ist, oder ob die staatlichen Anordnungen zum Schutze vor der Coronaseuche angemessen oder nicht angemessen sind. Das Ideal des mündigen Staatsbürgers vor Augen muß konzediert werden, daß seine Rolle in modernen Wissensgesellschaften nur noch die eines Gläubigen sein kann, daß er auf das Wissen der Expertensysteme zu vertrauen hat. Frank Lisson bringt es so auf den Punkt: „Erst seit gut hundert Jahren sieht sich der Mensch mit einer technisch erzeugten Wirklichkeit konfrontiert, die kein einzelner mehr verstehen kann und folglich auch nicht selber herstellen könnte.“ Lisson, Weltverlorenheit. Über das Wahre im Wirklichen, 2016, S.13.

Stand in einfach strukturierten Gesellschaften der Einzelne als Laie nur dem Priesterstand der Wissenden gegenüber, in allen anderen Bereichen konnte auch er ein Experte sein, das gesammtgesellschaftliche Wissen konnte noch von einem Einzelnen sich angeeignet werden, so ist das in modernen Gesellschaften nicht einmal mehr einem Genie möglich und auch keiner Elite mehr. Nur Höchstleistungscomputer mit künstlicher Intelligenz könnten das, wenn überhaupt.

Die Priesterherrschaft evozierte den Generalverdacht des Priesterbetruges, die Aufklärung wollte so diese Herrschaft überwinden, indem sie die religiöse Bildung mit dem Konzept der natürlichen Religion als für jeden hinreichend zugängliches Wissen konstruierte. Aber statt eine egalitären Wissensgesellschaft entstand in der Moderne ein so ausdifferenziertes Expertenwissenssystem, daß der Bürger der Moderne nur noch die Rolle eines Laien den Subsystemen gegenüber einnehmen kann. Es wird von ihm so nur noch: Glaub und Vertrau!, gefordert, denn er fungiert fast nur noch als Unwissender. Es liegt nahe, daß diese Konstellation von dem Bürger als ein Zuviel an gefordertem Glauben empfunden wird, sodaß, wo die Subsysteme Glauben von ihm einfordern, er mit Mißtrauen reagiert. „Den da oben, den glauben wir (nicht mehr).“

In der Geschichte der BRD kann man so bestimmte Phänomene, wie die Anti-AKW- Bewegung, die Friedensbewegung und jetzt die Proteste gegen die Regierungspolitik bezüglich der Coronaseuche so begreifen: Sie leben aus dem Mißtrauen der Laien gegen Expertenwissenssystemen. Verstärkt wird diese Verdachts- und Mißtrauenskultur noch durch die Erkenntnis, daß die politisch verantwortlichen Entscheider selbst den jeweiligen Expertensystemen gegenüber sich wie Laien verhalten: Sie können selbst nicht den Wahrheitsgehalt der Expertenurteile beurteilen; auch sie müssen glauben, aber nur wem, wenn selbst die Experten sich untereinander uneinig sind? Der politische Diskurs ist eben selbst nur ein Expertendiskurs neben vielen andern, sodaß die Teilnehmer dieses Diskurses, unter Diskurs sei hier das Innenleben eines Expertensysytemes verstanden, anderen Diskursen gegenüber auch nur Laien sind.

So ist es auch kein Zufall, daß angesichts dieser Lage zwischen den Expertensystemen und der Rolle des Bürgers als Laie Verschwörungstheorien so viel Anklang finden. Das Mißtrauen gegen die Expertenherrschhaft und die Einsicht, daß politische Entscheidungen nicht mehr sachkundig von den Entscheidern getroffen werden können, läßt die Nachfrage an alles erklärenden Theorien entstehen, die der erfahren und erlitten werdenden Ohnmacht der Bürger moderner Gesellschaften gerecht wird.





 

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