„Philosophie,die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ Mit diesem Satz präludiert Theodor Adorno sein großes Opus: „Negative Dialektik. Es soll nun nicht weiter gelesen werden, sondern dieser erste Gedanke der „negativen Dialektik“ durchdacht werden, denn er ist so gehaltvoll, daß sein Durchdenken viel verheißt.
Der Singular fällt auf: Gibt es nicht viele Philosophien, was meint dann (die)Philosophie? „Einmal“ soll sie überholt gewesen sein, aber der Schein trügte. Sie hätte verwirklicht werden sollen und weil das mißlang, lebt sie noch... als untote?, möchte man fast hinzufügen.
Die wissenschaftliche Philosophie, sofern darunter die Rekonstruktion oder einfacher das Nachdenken des von großen Philosophen Gedachten verstanden wird, ist zeitlos, kennt keinen Augenblick seiner Verwirklichung noch kann sie überholt sein. Faktisch garantiert die Polyinterpretabilität gerade philosophischer Texte einen ewigen Diskurs des: Was wollte der Philosoph mit diesem Text sagen? Jede neue Interpretation kritisiert dann ältere und wird wiederum von anderen kritisiert. Der sekundäre Diskurs, die wissenschaftliche Erforschung der Interpretationen der Basistexte der großen Philosophen produziert dann endgültig einen nie versiegenden philosophischen Diskurs.
Aber genau eine solche ideengeschichtliche, oft biographisch orientierte Rekonstruktionsarbeit: Was lehrten die großen Philosophen?, ist nicht mit der Philosophie gemeint, von der Adorno hier spricht. Benennen wir das hier Gemeinte dann einfach die systematische Philosophie: Sie eruiert nicht, was ein Philosoph gedacht hat und will das wahrhaftig erkennen sondern fragt nach der Wahrheit (jetzt etwas ungeschützt formuliert) und rezipiert dazu Gedanken von Philosophen, um eine Antwort auf diese Frage zu konstruieren.
Dann könnte unter der Verwirklichung der Philosophie die Vorstellung verstanden werden, daß nun die Realität gemäß der philosophisch erkannten Wahrheit gestaltet wird, sodaß die Philosophie als Theorie für ein praktisches Handeln überflüssig würde, wenn die Theorie verwirklicht worden wäre. (In der Theologie gibt es einen ähnlichen Gedanken: Der Glaube als das Fürwahrhalten von und dem Vertrauen auf findet sein Ende in dem postmortalen Leben, wenn die Wahrheit, Gott geschaut wird- eine geschaute Wahrheit kann nicht mehr für wahr gehalten werden noch kann auf sie vertraut werden, weil dann die Wahrheit in Gänze uns offenbar ist.)
So darf wohl die Vermutung geäußert werden, daß hier die Philosophie für das vernünftige Denken steht primär als praktische Vernunft akzentuiert: Die Welt, oder wohl besser gesagt, die Gesellschaft hätte zu einem bestimmten Zeitpunkt rein vernünftig gestaltet bzw umgestaltet werden können. Diese Umgestaltung aller gesellschaftlichen Verhältnisse wäre das Praktischwerden der Philosophie und somit ihre Negation als Theorie. Sie hebte sich in der Praxis auf, in der Realisierung der Konstruktion einer vernünftigen Weltgesellschaft. Damit befinden wir uns wohl in der bürgerlichen Philosophie, die in den politischen Revolutionen die Ankunft der vernünftigen Welt erblickte, aber zugleich entsetzt über den Terror der Vernunft war: die Schrecken der Guillotine. Die Partikularität der Französischen Revolution, daß sie eine bürgerliche war und so auch die Arbeiterklasse aus der Emanzipation ausschloß erweckte die Vorstellung einer zu folgen habenden Revolution, die dann erst die ganze Gesellschaft vernünftig gestalten ließe. Das Ausbleiben dieser endgültigen Revolution oder aber ihr Scheitern in der Gestalt des Stalinismus evozierte so ein Zurück zur Theorie angesichts dieses Scheiterns der revolutionären Praxis.
In dem „versäumt“ klingt so eine Trauer über dies Mißlingen an, der nun zu ein neues: „Von Anfang an denken Müssen“ evozierte. Das ist der Emergenzpunkt dieser „Negativen Dialektik“.
Theologisch gesehen ist so die Philosophie, die die Theorie der Vernunftgestaltung der Gesellschaft sein wollte, die Aufhebung der christlichen Hoffnung auf die Erlösung im und durch das Reich Gottes zu dem Postulat der praktischen Philosophie, aufzuhören die Welt immer neu zu interpretieren, sondern sie vernünftig zu gestalten. So der Kerngedanke von Karl Marx über die Aufgabe der Philosophie. Zur Aufgabe der Philosophie gehört dann aber auch ihr Aufgeben in der vernünftig-revolutionären Praxis. Vernunft will Praxis werden.
Die „Negative Dialektik“ wendet sich so wieder der Interpretation der Wirklichkeit zu, weil ihr der Glaube an eine Verwirklichbarkeit der Philosophie abhanden gekommen ist.
Wir erleben nun aber nicht nach dem Scheitern der utopischen Hoffnung auf eine vernünftig gestaltete Welt durch die Vernunftphilosophie eine Rückkehr zu der christlichen Hoffnung auf die Erlösung im Reich Gottes, sondern auch das Verblassen diese Erlösungshoffnung. Vielleicht ist das Wesentliche der postmodernen Epoche der gänzliche Utopieverlust, daß die Geschichte eben kein auf ein „gutes Ende“ hin festgelegter Prozeß ist, daß es so gar nicht mehr die Geschichte geben kann sondern nur noch einzelne Kurzerzählungen fragmentarischer Art, da sie sich nicht mehr zu einem Ganzen, in sich Vollständigen synthetisieren lassen. So stürbe in der Postmoderne nicht nur die Hoffnung auf die Realisierbarkeit einer vernünftigen Welt sondern auch damit das Hoffen auf das Reich Gottes als der christlichen Verheißung. Stattdessen dominiert der Punktualismus des Gottes, der einfach nur noch die Bejahung jedes Einzelmenschen ist, so wie er ist. So wird Gott und der Mensch geschichtslos in dieser einfachen statischen Relation der reinen Affirmation.
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