Peter Sloterdijk zitiert in seinem Essay zur Gnosis als Hinführung zu ihr einen der bedeutendsten jüdischen Theologen Philo von Alexandria: „Denn jeder von uns ist in diese Welt gekommen wie in eine fremde Stadt,an der wir vor unserer Geburt keinen Anteil hatten, und in dieser Stadt hält er sich wie ein Gast auf, bis er die ihm zugemmessene Lebensspanne erschöpft hat.“ Sloterdijk, Die wahre Irrlehre: Gnosis, in: ders, Nach Gott, 2017, S.78. Der Mensch ist so zwar in der Welt, aber nicht von ihr. Gnosis als Erlösungskomzept bedeute dann, daß das Unglück der Seele sein Vergessen seines nichtiridischen Ursprunges wäre, das durch die Erkenntnis ihres Wohers erlöst werden kann als Rückbesinnung ihrer Heimat als Rückkehr zu ihr. Diese Selbsterkenntnis zu vermitteln ist nun die Aufgabe des Erlösers, der aus der wahren Heimat in die Welt gekommen, den Seelen so ihre Selbsterkenntnis vermittelt.
Aber genau genommen ist dies noch keine Gnosis. Diese Vorstellung wird erst zu einer rein gnostischen, wenn die Schöpfung der Welt und des Menschen schon als der Fall der Schöpfung und des Menschen verstanden werden und nicht christlich zwischen der Schöpfung des Menschen und seines Sündenfalles unterschieden wird. Denn so kann die Welt als die gute Schöpfung Gottes expliziert werden, die erst durch die Sünde und die Strafe Gottes dann depraviert wurde. Wird aber dieser Mythos vom Sündenfall gestrichen und wird so die Schöpfung selbst schon zum Fall, kann auch Gott selbst nicht mehr als der Schöpfer zu stehen kommen. Es wird somit distinguiert zwischen dem Schöpfergott, einem Demiurgen und dem Erlösergott. Nun bräuchte es eigentlich noch einer mythologischen Erzählung, wie es kam, daß die Seele in die Welt gefallen ist, wie sie ihr wahres Sein verkennt, sich also als ein Element in und von der Welt mißversteht und so entfremdet von sich selbst existiert.
So entstünde die Möglichkeit der Unterscheidung von In- und von der Welt Sein. Dies Vermögen erscheint nun Sloterdijk eigentlich als nur eine Möglichkeit des gnostischen Denkens und so verkennt er, daß diese Differenz schon Philo von Alexandria und dann ihm folgend etwa von der johanneischen Theologie (das Johannesevagelium und die Briefe) gezogen werden konnte.
Was bedeutet es aber, wenn der Mensch sein Sein verkennt, indem er sich nur noch als ein Element der Welt versteht? Er wird dadurch zu einem Gefangenen der Welt, das ist seine Entfremdung von sich selbst.
Kann für diesen recht spekulativ anmutenden Gedanken es in der Bibel selbst eine Fundierung geben, oder sollte hier einfach von einer philosophischen Verfremdung des biblischen Menschenverständnisses gesprochen werden, so als stünde zumindest das Alte Testament Nietzsches Parole der Treue zur Erde näher als solche weltflüchtigen Vorstellungen? Es soll sich deshalb auf einen Zentralbegriff des Alten Testamentes, dem des Exiles kapriziert werden. Das jüdische Volk vertrieben aus seiner Heimat lebte in der „Babylonischen Gefangenschft“ . Dies Exil wurde nun theologisch begriffen als die Strafe Gottes für das Sündigen des Volkes. Nicht ob einer militärischen Niederlage wurde das Volk aus seiner Heimat vertrieben, sondern Gott nahm seine diesem Volke gegebene Verheißug zurück, er verließ sein Volk und bestrafte es durch seine Exilierung. Im Exil konnte nun das Volk nie recht heimisch werden, weil nur in Jerusalem, im jerusalemer Tempel es seinen Gott verehren durfte. Im Exil zu leben, hieß so, nicht nur fern von der Heimat zu sein, sondern auch fern von Gott zu sein. Der Mythos vom Sündenfall radicalisiert nun diese Exilstheologie: Adam und Eva lebten in ihrer Heimat, bis daß Gott sie ob ihres Sündenfalles exilierte. Jetzt wird die ganze Welt für den exilierten Menschen zu einer „Babylonischen Gefangenschaft“. Darum heißt es im „Salve Regina“ so brillant die Lage des exilierten Menschen treffend: Ad te clamamus exsules filii Evae= Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas.“
Diese theologische Existenzerhellung ist somit kein Sondergut der Gnosis sondern gehört konstitutiv zum Menschenverständnis der Bibel. Das Bedrohliche ist nun die Möglichkeit des Menschen, seine Lage mißzudeuten und sich als Element der Welt, als eine Hervorbringung der Natur zu verstehen.
Wie die Existenz des Menschen die nun eines In- aber nicht von der Welt Seins ist, die er aber mißverstehen kann, sodaß er der Welt verfällt, so kann auch die Existenz der Kirche, die ebenso in der Welt aber nicht von ihr ihr Sein hat, mißverstanden werden, wenn sie sich auch nur noch rein weltlich versteht. Es gibt nun einen klar einsehbaren Zusammenhang zwischen der Möglichkeit des Menschen, sich verweltlichend mißzuverstehen und der Möglichkeit, die Kirche ebenso mißzuverstehen: Wenn der Mensch nur noch als etwas rein Weltliches sich mißversteht, dann wird er so auch die Kirche mißverstehen. Die Trias: Gott-Seele- Welt bestimmt das Existensverständnis des Christen. Durch seine Gottesbeziehung wird er stablilisiert der Welt gegenüber, die so ihm auch zum Material seines Gestaltens wird. Verliert er diese jenseitge Stabilisierung entfremdet er sich zu einem Element der Welt, die nun ihn hervorbringt und gestaltet. Der Verlust der Seele, daß seine Psyche nur noch etwas rein biologisch natürlich Erklärbares sein soll, entmenscht dann den Menschen vollends. Er will nur noch eine besondere Organisationsform der Materie sein, so das Credo jeder materialistisch-biologistischen Philosophie.
Was wird dann aus der Kirche, wenn sie nur noch ein weltlich Ding sein soll und sein will? Die Umformung der Kirche von einer in aber nicht von der Welt zu einer auch von der Welt zur bloßen „Weltkirche“ erleiden wir in der nachkonzilaren Zeit. Der „Synodale Irrweg“ stellt da neben der marxistischen Befreiungstheologie sicher den Tiefpunkt dieses Selbstentfremdungsprozesses dar. Aber diesem Fall der Kirche ging eben der Fall des Menschen voraus, der nicht mehr wissen will, was er ist, ein Exilierter in der Fremde, wie es schon so treffend Philo von Alexandria zum Ausdruck zu bringen wußte.
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