Samstag, 15. Januar 2022

"Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen"-Offenbart sich hier Gott?

Mein Gott,mein Gott, warum hast Du mich verlassen!“ Offenbart sich hier Gott?


Das ist wohl das berühmteste Wort aus Jesu Mund, viel zitiert, aber wird es auch begriffen? Schenkte man den üblichen Karfreitagspredigten Glauben, dann offenbare Gott sich als die Liebe (zu allen Menschen) gerade am Kreuze. „Warum hast Du mich verlassen!“ signalisiert in einer Liebesbeziehung das (vorläufige) Ende. Verbunden ist diese Frage in der Regel mit der Hoffnung des so Fragenden, daß die aufgedeckten Gründe der Trennung Gründe sein mögen, die überwunden werden können, sodaß ein Neuanfang der Liebesbeziehung möglich wird. „Du hast mich verlassen“ heißt aber erstmal: „Du liebst mich nicht mehr!“

Dieser Ausruf signalisiert so noch etwas: Der als den Frager verlassen Habende Angesprochene wird als Anwesender vorausgesetzt; er hört diese Frage, er könnte sie respondieren. Die Paradoxie ist also die, daß der verlassen Habende noch da ist, so präsent, daß er noch gefragt werden kann.

Wenn Jesus also so seinen Vater frägt, setzt er selbst voraus, daß sein Vater noch bei ihm ist, er noch von seinem Sohne ansprechbar ist, daß er gar noch auf diese Sohnesfrage antworten könnte. Also; nicht hat Gott als Gott seinen Sohn verlassen, sondern Gottes Liebe hat den Sohn verlassen: Gott liebt seinen Sohn nicht mehr.

Im Abendgebet der Kirche, dem Komplet betet die Kirche jeden Freitag, das Gebet, das uns wie das freitägliche Läuten der Kirchglocken um 15 Uhr an die Sterbestunde des Heilandes erinnert, immer an den Karfreitag erinnert nicht etwa den 22. Psalm, aus dem Jesus hier zitiert, sondern den 88.

Das geschieht nicht grundlos. Denn dieser Psalm erklärt uns die Bedeutung des Verlassenwordenseins von Gott. So wird in der Komplet gebetet: (88,15f):

Warum, o Herr, verwirfst Du mich,warum verbirgst Du Dein Gesicht vor mir?“ „Deine Schrecken lasten auf mir, und ich bin zerquält.Über mich fuhr die Glut Deines Zorns dahin, Deine Schrecken vernichten mich.“ Jesus ist nicht nur von der Liebe Gottes verlassen, er erleidet am Kreuze den Zorn Gottes über ihn ausgeschüttet. Wenn der Apostelfürst Paulus in seinem Römerbrief schreibt: „Der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen“ (Röm 1, 18), dann ist für Paulus der erste Ort, wo Gott diesen Zorn offenbarte, das Kreuz Christi selbst. Der Sohn Gottes selbst nahm das göttliche Zornesgericht auf sich selbst. Mitten im Erleiden dieses göttlichen Zornes frägt so der Sohn Gottes nach dem göttlichen Gesicht der Liebe: Wo ist Deine Vaterliebe geblieben? Warum hast Du sie mir entzogen, sodaß ich jetzt nur noch den göttlichen Zorn des Vaters als mein Gegenüber habe und erleide?

Diesen Skandalon zum Verschwinden zu bringen, versuchte die Theologie nun immer wieder. Eine beliebte Strategie ist die, diesen Ausruf als Täuschung Jesu zu interpretieren. Jesu österliche Auferstehung soll dann beweisen, daß Gott seinen Sohn nie verlassen habe. Aber damit verschwindet das Ereignis der Auferweckung Jesu von den Toten, denn nun soll ja geglaubt werden, Jesu sei nie von Gott verlassen worden, er sei so eigentlich nie gestorben und Ostern demonstriere nur, daß Jesus immer lebend bei Gott gewesen war. Eine zweite heutzutage kaum noch vertretende Position rekurriert auf die Christologie, daß Jesus eine Person in zwei Naturen sei, der göttlichen und der menschlichen. Nicht nach der göttlichen sondern allein nach der menschlichen habe er am Kreuze gelitten, sei von Gott verlassen worden, während seine göttliche davon völlig unberührt gewesen sein soll. Nach seiner menschlichen Seite sprach er dann, Gott habe ihn verlassen, aber nach seiner göttlichen war er auch am Kreuze innigt mit seinem Vater verbunden, ja eins. Das läuft letztendlich darauf hinaus, daß der Sohn gar nicht gelitten habe, sondern nur zum Scheine.

Den Hintergund dieser Konstruktion liefert eine sehr problematische Vollkommenheitslehre, daß Gott als vollkommen zu denken sei. Die materiale Durchführung dieses theologisch richtigen Grundsatzes führt dann aber faktisch dazu, daß Gott in seiner Allmacht so limitiert gedacht wird, daß er fast nichts mehr kann. So könne Gott als Gott nicht leiden und deshalb könne auch der Sohn Gottes nicht leiden! Wenn aber Gott leiden will, dann kann er das auch. Dies will die Vollkommenheitslehre ausschließen, indem Gott so durch seine Eigennatur determiniert gedacht wird, daß er nicht etwas wollen kann, was seiner Vollkommenheit widerspräche: zu leiden. So hätte Jesus auch nicht seinem Vater gegenüber ungehorsam sündigen können, weil auch das seiner göttlichen Vollkommenheit widerspräche. Dann könnte Jesus aber auch nicht seinem Vater gegenüber gehorsam sein, denn das Gehorchenkönnen setzt denknotwendig ein Nichtgehorchenkönnen voraus. Ein Auto, das nicht anspringt, gehorcht nicht, sondern funktioniert nicht. Sein Nichtanspringen wäre nur ein Ungehorsamsakt des Autos, wenn es die Fähigkeit besäße, kraft eines freien Willens zu gehorchen oder auch nicht zu gehorchen.

Jesus konnte also als Gottes Sohn leiden, weil aber auch nur, weil er es im Gehorsam so gewollt hat. Er erlitt dann wirklich den Zorn seines göttlichen Vaters so sehr, daß er dann ausrief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!“

Er erlitt sogar den Tod, er starb wirklich und erlitt so sein Verlassensein von der göttlichen Liebe, als er hinabgestoßen wurde in die Unterwelt des Todes. Denn das Todsein ist nicht eine einfache Nichtung des Menschen, sondern er lebt sozusagen als Untoter in der Unterwelt als dem Ort, wo er von der Liebe Gottes gänzlich ausgeschlossen ist. Aus diesem Totsein erweckte ihn der Vater, indem er ihm seine göttliche Liebe wieder zuwandte.

Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!“ kennzeichnet so auch die Lage des Volkes Israel, nachdem es den Bund mit Gott endgültig gebrochen hatte durch sein Nein zu seinem Messias. So wie Gott seinen Sohn seiner göttlichen Liebe entziehen konnte, weil er nun die gesamte Sünde der Welt auf sich selbst nahm und so wirklich zum Sünder wurde, den Gott nicht mehr liebt als gerechter Gott, so entzog Gott auch seiner ersten Liebe, dem Volke Israels seine Liebe, weil es seinen Sohn nicht als seinen Messias annehmen wollte.

Jesu Ausruf demonstriert nämlich auf das Bitterste, daß Gott auch aus seiner Liebe verstoßen kann: „Ich habe mit Dir Schluß gemacht!“ Jeder Liebesfilm lebt eben davon, daß es eine glückliche Liebe nur geben kann, weil sie bedroht ist durch die Möglichkeit des: „Ich hab mit Dir Schluß gemacht“ , daß der Liebende dann nur noch antworten kann mit dem Ausruf: „Warum hast Du mich verlassen!“


 

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