Montag, 15. März 2021

Ein protestantisches Narrativ: Vom Abfall vom Urchristentum und wie Luther es wieder herstellte

Ein protestantisches Narrativ: Vom Abfall vom Urchristentum und wie Luther es wieder herstellte


Eine schöne Erzählung von dem guten Anfang des Urchristentumes, als die Gemeinden noch ganz geschwisterlich waren, hierarchiefrei, es keine Priester gab, alle gleich waren, Frauen die selben Rechte genossen wie die Männer, es eigentlich in den Urgemeinden so zuging wie in dem berühmtesten Dorf Galliens, wo der Zaubertrank des Hl. Geistes das Leben übersprießen ließ...und dann begann der Abfall! Wann genau, darüber sind sich die Abfallerzählungen nicht ganz eins: ob erst mit der Konstantinischen Wende, als das Christentum faktisch zur Staatsreligion avancierte oder ob schon in einigen Schriften des Neuen Testamentes sich dieser Abfall abzuzeichnen begann. (In der exegetischen Diskussion wurde das als das Problem des Frühkatholizismus thematisiert. Katholizismus gilt dabei als der Abfall vom wahren Christentum.

Hierarichen bildeten sich aus, Dogmen entstanden, Rituale ersetzten die spontane Frömmigkeit...nur noch Privilegierte durften predigen. Nach R. Bultmann erfanden dann erste kirchliche Theologen die Sakramente- Jesus kannte natürlich keine und seine Verkündigung kennt ja auch nur den persönlichen Glauben, der sich dann in der praktiziierten Nächstenliebe äußert. Adolf von Harnack geht noch weiter in seiner Rekonstruktion der Abfallsgeschichte: Daß aus dem Verkünder Jesus von Nazareth der verkündigte Jesus Christus wurde, war der Sündenfall des Urchristentumes.

Aber am schlimmsten: Daß aus der persönlichen Begegnung mit Jesus, aus der unmittelbaren Erfahrung seiner Liebe zu uns ein dogmatisches Lehrsystem wurde!

So variantenreich also auch dies protestantische Narrativ ist, in einem herrscht ein Konsens: Die Entwickelung der Kirche bis hin zu Luther war ein einzige Abfallbewegung vom Urspünglichen weg.Luther bezeichnet dann den Punkt der größten Entfremdung vom Ursprung, aber zugleich den Punkt der Umkehr zum Ursprünglichen. Kontrovers diskutiert wird dann nur noch, ob es Luther gelang, sich ganz vom Irrweg des Katholischen zu emanzipieren oder ob er noch allerlei Katholisches beibehielt, sodaß auch Luther noch entkatholisiert werden muß, wie es dann im Protestantismus gefordert wurde.

Ein neuerdings auch unter Katholiken beliebtes Narrativ! Es muß aber erlaubt sein, diese große Erzählung vom guten Anfang, vom Abfall und von der Wiederherstellung des Ursprünglichen zu befragen. Wird hier nicht unreflektiert die Entwickelung des Urchristentumes als Depravation abgeurteilt? Wenn aus einer Raupe ein Schmetterling wird, wer spräche da von einer Fehlentwicklung, weil der Schmetterling so wenig noch gemein habe mit der Raupe? Welche Mutter bedauerte es, wenn ihr Kind, statt weiter auf allen Vieren maulwurfartig zu krabbeln, versucht auf seinen 2 Beinen zu gehen, auch wenn die ersten Gehschritte meist in einem Fall und Tränen endet? Wie der Raupe so ist dem Kinde eine Telelogie innewohnend, ein Ziel, auf das es gilt, sich hin zu entwickeln. Sein Sein ist ein Bestimmtsein zu etwas zu werden, das anfänglich nur als Potentialität in dem Anfang enthalten ist. Es wäre also zu fragen: Wie soll die Kirche Jesu Christi sein und: War sie am Anfang schon in Gänze, wie sie sein sollte? Jesus Christus hat Petrus als 1.Papst eingesetzt, aber das beinhaltet sehr wohl die Möglichkeit, daß die Idee des Papstamtes sich erst im Prozeß der Entwickelung der Kirche im Laufe der Zeit ganz realisiert hat, daß seine Vollgestalt erst im 1.Vaticanum dogmatisch geklärt zur Erscheinung wurde. Wenn Jesus die Feier der Eucharistie und das Priesteramt seiner Kirche einstiftete, dann schließt auch dieses nicht aus, daß die Idee des Priestertumes und der Eucharistiefeier sich erst im Laufe der Zeit in der Kirche vollständig realisierte, so wie die Bestimmung des Menschen, sprechen zu können, auch sich noch nicht im ersten ausgerufenen: „Mama, Mama“ realisiert. Es ist eben ein weiter Weg von den ersten Worten bis zu einer Sprachvirtusität eines Jean Paul oder Thomas Mann, aber auch die fingen mit: „Mama“ an.

Slavoj Zizek urteilt über Luther: „Luthers Rückkehr zu Christus, zum ursprünglichen Christentum,einer Rückkehr, die eine radikal neue Form des Christentums hervorbrachte.“ (Absoluter Gegenstoß, 2016,S.57)Die radical neue Form verweist rechtens auf die Diskontinuität zum Ursprünglichen! Man könnte so distinguieren: Entwicklung bedeutet, daß das im Ursprünglichen als Potentialität und Ziel der Entwickelung schon Enthaltende nun realisiert, zur Erscheinung kommt, wohingegen eine Diskontinuität den Bruch mit dem Ursprünglichen mit seinem ihm eingeschriebenen Entwickelungsziel meint: Eine Entwickelung entartet, wie ein Zug aus den Gleisen springen kann.

Dann muß auf die Praxis der Interpretation der Quellen dieser Kirchengeschichtsschreibung auch noch ein kritischer Blick geworfen werden: Wird hier nicht das Abfallschemata in die Quellen hineininterpretiert? Gleichen die uns vorgestellten Bilder des wahren Urchristentumes nicht allzu sehr den Wunschutopien der heutigen Zeit, des Zeitgeistes, als daß sie wirklich Rekonstruktionen des Anfanges sein könnten? Werden hier nicht Idealbilder linksliberaler Ideologie in die Vergangenheit projiziert, so wie K. Marx seine utopische klassenlose Gesellschaft in den Urzustand der Menschheit vor ihrem ihr eigenen Sündenfall? So wenig es das gallische Widerstandsdorf, ganz lebend aus dem Zaubertrank je gab, so schön die Erzählungen auch ausfallen, so wenig gab es wohl dies Urchristentum, zu dem Luther und seine Schüler, auch die katholischen zurückkehren wollen. Es gilt, die organische Entwickelung der Kirche von ihren Anfängen an zu bejahen, aber gerade deshalb jeden radicalen Bruch mit dieser Entwickelung zu vermeiden und wenn ein Bruch sich ereignet haben sollte, ihn zu revidieren!

Die Kirchengeschichte verlangt nach einer Organologie, als Lehre von der Selbstbewegung der Kirche, daß sie primär nicht durch äußere Umstände evoziert wird sondern als Selbstentwickelung zu begreifen ist, die aber eben auch günstige Bedingungen zu ihrer Selbstentfaltung bedarf: Wie könnte denn auch ein Kind sprechen lernen, spräche seine Mutter nicht mit ihm!

 

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