Nachtgedanken: Darf etwas Nichtkritisierbares kritisiert werden: die Menschenrechte?
Die Menschenrechte gelten so selbstverständlich als etwas rein Positives,daß der Diskurs über sie sich limitiert auf die Frage, ob sie denn auch in bestimmten Staaten auch verwirklicht werden. Das Privileg der Außenpolitik besteht dann darin, unter völliger Absehung von der Frage, wie es denn um die Realisierung der Menschenrechte im eigenen Lande stünde, anderen Staaten Menschen-rechtsverletzungen vorzuwerfen. China avanciert so momentan zum Lieblingshaßobjekt der Menschenrechtskämpfer.
Aber ein Denken, das sich an den Werken eines H.P.Lovecraft und anderer Nachtgedankenschreiber geschult hat, erlaubt sich gar, auch diese zeitgenössische Tagwahrheit in Frage zu stellen. Dabei stößt ein solch hyperkritisches Denken auf einen unerwarteten Gefährten, auf Karl Marx Kritik der Menschenrechtsideologie, fundiert dargelegt in seiner Schrift: „Zur Judenfrage“. (Zitiert nach: Karl Marx, Zur Judenfrage, Ernst Rowohlt Verlag Berlin 1919, Reprint). Spontan assoziiert man doch eher Conservative und Rechte als Kritiker und Linke als Befürworter der Menschenrechte. So wäre von Marx eine Apologetik dieser Rechte und keine Kritik zu erwarten, es sei denn, es würde auf die Realität der sozialistisch/kommunistisch regierten Länder rekurrierend der Verdacht geäußert, daß Linke, nur solange sie in der Opposition sind, für sie eintreten, um, an der Macht gekommen, diese dann ad hoc wieder abzuschaffen.
In medias res: Marx Kritik der Menschenrechtsideologie. Die Freiheit der Menschenrehte:
„Die Freiheit ist die Macht, über die der Mensch verfügt,alles zu tun, was die Rechte der anderen nicht beeinträchtigt, oder: Die Freiheit beteht darin, alles zu tun und zu treiben, was keinem anderen schadet.“ (S.31) Diese Bestimmung der Freiheit läßt die wesentliche Frage, ob das von Menschen Gewollte auch freiwillig gewollt wird, wenn A gewollt wird, könnte dann auch Nicht-A gewollte werden außer Acht und begrenzt sich so auf die Frage der Handlungsfreiheit: Kann und darf ich realisieren, was ich will. Der Terminus „Macht“ bejaht das Vermögen der Realisierung, und dies Vermögen wird dann als limitiert durch das Recht des Anderen konzipiert.
Marx kritisiert nun dies Konzept so: „Die Freiheit ist also das Recht,alles zu tun und zu treiben, was keinem anderen schadet. Die Grenze, in welcher sich jeder dem anderen unschädlich bewegen kann, ist durch das Gesetz bestimmt, wie die Grenze zweier Felder durch den Zaunpfahl bestimmt ist. Es handelt sich um die Freiheitdes Menschen als isolierter, auf sich zurückgezogener Nomade.“ (S.31)
„Das Menschenrecht des Privateigentumes ist also das Recht, willkürlich ohne Beziehung auf andere Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes. Jene individuelle Freiheit, wie diese Nutzanwendung derselben, bilden die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie läßt jeden Menschen im anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden.“ (S.32)
„Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse, und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist.“ (S.33).Die Kritik kummuliert sich dann in dieser Aussage:
„Weit entfernt, daß der Mensch in ihnen als Gattungsleben aufgefaßt wurde, erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit.Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentumes und ihrer egoistischen Person.“ (S.35)
In der bürgerlichen Gesellschaft lebe also der Mensch entfremdet von seinem Gattungsleben als privatisierter Egoist, dem der Mitmensch nur eine Schranke seiner Freiheit sei. Das einzige die Menschen dann Verbindende ist, hier interpretiere ich, der freie Markt des Kaufens und Verkaufens, um der Bedürfnisbefriedigung der Egoisten willen. Im Sinne des Marxexegeten L. Althusser ist so diese Kritik der bürgerlichen Gesellschaft eine zwar von Marx verfaßte aber keine (schon) marxistische. Die Erfahrung und das Erleiden der bürgerlichen Gesellschaft als einer atomisierter Bürger, die nur noch beziehungslos nebeneinander leben und nur noch in Kaufvertragsbeziehungen miteinander kommunizieren, ist eher romantisch als marxistisch. Aber sie trifft doch den Kern der bürgerlichen Gesellschaft gerade jetzt in der Postmoderne, in der die letzten vorbürgerlichen Gemeinschaftslebensformen sich auflösen, die der Familie und der Ehe und der des Volkes und des Nationalstaates und nur noch der postmoderne Bürger als Einzelnomade übrigbleibt.
Die Menschenrechte sind so der manifeste Ausdruck der Atomisierung der Gesellschaft, daß sie kein soziales Gemeinwesen mehr ist, sondern nur noch die Summe einzelner Vertrags- und Kaufbeziehungen. Dabei entfremdet sich der Mensch von sich selbst. Er ist nämlich als Individuum immer auch ein Teil des Gattungswesens Mensch. Er ist sozusagen eine Individuierung des Gattungs-wesens. Aber in dem Gattungsleben hat er sein Leben, von dem ihn nun die Verfaßtheit der bürgerlichen Gesellschaft abtrennt. Das hat aber nun auch unverkennbar moralische Folgen. Die Begriffe des Eigennutzes, des Egoismus drücken unüberhörbar Marx moralische Kritik dieses Zustandes aus. Die bürgerliche Gesellschaft ist so nicht eine Höherentwickelung aus dem finsteren Tale des Mittelalters hin zur Freiheit und Vernunft, sondern die Rückentwickelung des Menschen zum puren Egoismus. Die Menschenrechte sollen so ihm nun auch noch das Recht geben, als Egozentriker zu leben, dem der Mitmensch nur eine Grenze seiner Privatfreiheit ist, sofern er nicht in Handelsbeziehungen mit ihn eintritt zum Kaufen und Verkaufen. Die Menschenrechte setzen so die reale Entfremdung des Menschen von sich selbst voraus und rechtfertigen sie als Recht des Menschen, rein privat zu leben. Aristoteles Rede vom Menschen als natürlichem Gemeinschaftswesen wird so negiert, der Mensch als isoliertes auf sich allein zurückgeworfenes Wesen wird zu dem eigentlichen Menschsein hochstilisiert.
Coroallarium
Eines dürfte aber unübersehbar sein: Diese so strukturierte Gesellschaft kann nicht einfach als eine christliche oder auch nur christlich fundierte begriffen werden. In ihr werden nämlich die Schöpfungsordnungen Gottes, die Familie und ihr Ordnungsprizip der Ehe und das Volk und sein Ordnungsprinzip des Nationalstaates aufgelöst durch die radicale Verprivatisierung des Menschen.
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