Dienstag, 8. März 2022

Ein Orientierungsversuch über Weltanschauung, Ideologie und Religion – warum es ohne dem nicht geht!

Ein Orientierungsversuch über Weltanschauung, Ideologie und Religion – warum es ohne dem nicht geht!


Eine banale aber sehr populäre Vorstellung: Ein Mensch sieht die Wirklichkeit durch seine Brille. Durch sie nimmt er nun die Wirklichkeit nicht so wahr, wie sie wirklich ist, sondern verzehrt. Die Brille soll nun die Auswirkung auf unser Wahrnehmen veranschaulichen, wenn wir die Welt durch eine Weltanschauung, eine Ideologie oder eine Religion wahrnehmen. Die Brille verfälsche so unsere Wirklichkeitswahrnehmung.

Narrative erklären dann, wieso Menschen solche Verzehrbrillen aufsetzen, daß sie irgendwie dazu manipuliert werden. Die plumpeste Variante ist dabei das Narrativ vom Priesterbetrug, daß sie eine Religion erfanden, um durch sie die anderen Menschen auszunutzen. Die Priester simulierten dann nur, daß sie an ihre eigene Religion glaubten, um dann etwa im Namen der von ihnen selbst erfundenen Götter Opfergaben einzufordern oder prinzipieller ihre Priesterherrschaft zu legitimieren. Die heutige Polemik gegen den Klerus lebt auch immer noch von dieser simplen Betrugsgeschichte. Tauscht man den Begriff des Priesters durch den des Intellektuellen aus, ergibt das das Narrativ der Intellektuellenherrschaft, der dann gerne der gesunde Menschenverstand entgegengesetzt wird.

Komplexer ist dann schon die Vorstellung von Herrschenden, die eine Religion oder eine Weltanschauung oder Ideologie instrumentalisieren, um ihre Herrschaft zu legitimieren, wobei entweder gemeint wird, daß sie dazu schon eine Religion, eine Weltanschauung oder Ideologie vorfinden, von wem auch immer hervorgebracht, die sie dann für ihre Absichten instrumentalisieren oder gar selbst sozusagen produzieren lassen für ihre Herrschaftszwecke. Unklar bleibt dabei in der Regel, warum dann Menschen sich so eine Verzehrungsbrille aufsetzen, die nur dazu führt, die Wirklichkeit nicht mehr adäquat wahrzunehmen. Die Formel der Manipulation hilft dann aber genau genommen auch nicht viel weiter, weil dadurch nur das Problem verschoben wird: Warum läßt sich ein Mensch manipulieren, warum verbleibt er denn nicht in seiner ihm eigenen unbebrillten Wirklichkeitswahrnehmung?


Ein kleine Begriffsklärung: Die Theologie verhält sich zur Religion wie die Ideologie zur Weltanschauung. Weltanschauungen werden erst wirksam, wenn die Religion an Bedeutung verliert als Surrogat. Religionen wie auch Weltanschauungen sind soziale kulturelle Hervorbringungen, erst in der Theologieproduktion wie in der der Ideologieproduktion treten dann Einzelne hervor, große Theologen, der hl. Augustin, der hl. Thomas von Aquin oder große Philosophen, die dann Weltanschauungen zu Ideologien vertiefen, etwa Platon, Hegel aber auch Marx und Nietzsche.


Der Generalverdacht gegen jede Religion oder Weltanschauung lautet nun ja im Kerne, daß durch sie die eigentlich erkennbare Wirklichkeit verkannt wird. Wissenschaftsgläubige erachten dann die Wissenschaften, zu denen dann aber die Theologie und Philosophie und manchmal gar alle Geisteswissenschaften nicht gezählt werden, neben dem „gesunden Menschenverstand“, wenn er nicht manipuliert wird, zu den einzigen Weisen der Wirk-lichkeitserkenntnis. Ohne Religion und ohne eine Weltanschauung wäre alles klar, so lautet wohl die simpelste Religions- und Weltanschauungskritik. Diese Haltung kann sich dann noch verbinden mit einer gesellschaftskritischen Geste, der der Kritik der Priester- und der Ideologenherrschaft.


Aber warum verharrt der Mensch nicht einfach in seiner ihm möglichen Wirklichkeitswahrnehmung, warum läßt er sich stattdessen Brillen aufsetzen? Verharrten wir im Bilde der Brille, könnte gemutmaßt werden, daß zur Brille gegriffen wird, weil ohne eine unsere Augen, das, was sie erkennen sollen, nicht richtig erkennen. Es gäbe eine dem Menschen eigentümliche Sehschwäche, die durch das Aufsetzen von einer Brille kompensiert werden soll.


Ein Annnäherungsversuch:


Ein Kind sitzt vor einem aufgeschlagenem Märchenbuch, aber es kann noch nicht lesen. Seine Mama liest ihm dann aus dem Buch vor. Das Kind sieht nur Buchstaben, zu Worten figuriert, die dann gar noch zu ganzen Setzen komponiert wurden und insgesamt einen Text ergeben. Aber für das Kind sind das nur unlesbare Zeichen. Nun soll die Gesamtwirklichkeit als ein Text verstanden werden. Die Wirklichkeitserkenntnis wäre so das Lesen und Verstehen dieses Textes. Aber das Auge sieht nur eine Menge von Zeichen und kann auch die Anordnung der Zeichen zu Sätzen nicht erfassen.


Meine These: Erst durch eine Religion oder eine Weltanschauung wird für uns der Gesamttext und auch seine Teiltexte les- und verstehbar. Ohne einer dieser zwei Größen, die in sich selbst reflektiert als Theologien oder philosophische Ideologien erscheinen, ist uns der Gesamttext unzugänglich. Da es aber nun keinen unmittelbare Erkenntnis der Wirklichkeit gibt, kann keine Religion oder Weltanschauung im Namen einer direkten Wahrnehmung der Wirklichkeit als falsch beurteilt werden. Religionen und Weltanschauungen kritisieren sich so nur untereinander, indem eine sich als allein wahre verstehend alle anderen kritisiert.

Der Mensch lebt aber immer schon in einer menschlich gedeuteten Wirklichkeit, er gleicht einem Textleser, der sich nicht damit begnügen kann, in einem Meer von ihm unverständlichen Zeichen zu leben, denn in einer so unlesbaren Welt könnte er gar nicht leben.

Die Wissenschaften unterscheiden sich so gesehen nur von Religionen und Weltanschauungen, indem sie konstitutiv für die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft Bedingungen der Falsifizierbarkeit von von ihr als wahr Ausgesagtem benennen können müssen- in Anlehnung an Popper. Für Religionen und Weltanschauungen gilt dagegen, daß es für sie kein mögliches Ereignis geben kann, durch das sie widerlegbar wären.

Aber damit das Ganze der Wirklichkeit les- und verstehbar wird, bedarf es einer Religion oder einer Weltanschauung, da die Wissenschaften nicht das Ganze verstehbar machen. Das könnte nur wiederum die Philosophie, die dann als die erste Wissenschaft (vgl etwa Fichtes Wissenschaftslehre oder das Hegelische System)genau genommen keine Wissenschaften mehr sind, sondern Ideologien geworden sind. Ohne Religion oder ohne eine Weltanschauung würde dem Menschen die Wirklichkeit so als Ganzes zu etwas Unlesbarem und Unverstehbarem.

 

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