Die Nächstenliebe und die Fernstenliebe und der universalistische Humanitarismus
Schenkte man dem Soziologen Jonas Glauben, bestünde das Proprium des Christentums in Anlehnung an Ernst Troeltsch in der universalistischen Moral, dem Individualismus und der Liebe - so nach dem Vortrag: „Warum Kirche?“, im Weltnetz als Video abrufbar. Erstaunlich und befremdlich, daß dieser Kurzvortrag: „Warum Kirche?“ ganz auf ein Erwähnen des Faktums, daß das Christentum eine Religion ist,in der es nun mal um Gott und dann besonders um den Sohn Gottes, Jesus Christus geht,verzichtet, um sich ganz auf die universalistische Moral der Liebe zu kaprizieren. Das Christentum sei eben ein universalistischer Humanismus mit dem Vorrang des Einzelnen vor allen Kollektivismen. Dazu sei dann auch die Kirche als Institution von Nöten.
Der protestantische Hintergrund, daß der Glaube primär eine unmittelbare persönliche Beziehung ist, in persönlichen Erfahrungen fundiert, erschwert natürlich den Zugang zur Notwendigkeit der Kirche, die eben nur etwas Sekundäres sein kann in der Antithese zu Cyprians Votum: Niemand kann Gott zum Vater haben, der nicht die Kirche zu seiner Mutter hat.
Wie verhält sich denn nun aber das Konzept der Nächstenliebe zu dem eines universalistischen Humanitarismus? (vgl A. Gehlen, Moral und Hypermoral). Wenn es „Nächste“ gibt, dann muß es auch „Nichtnächste“ geben, denn sonst würde dies Konzept sinnlos. Denn durch das „Nächste“ soll ja die Liebe bestimmt werden und jedes Bestimmen ist notwendigerweise auch ein Negieren. Ein simples Beispiel veranschaulicht das: Wenn eine Mutter sich um ihre eigenen Kinder genauso kümmert wie um die fremden Kinder ihrer Nachbarschaft, dann verstößt sie gegen das Gebot der Nächstenliebe. Denn die ihrigen Kinder haben ihr näher zu stehen als die fremden Kinder. Ja, die Fernstenliebe kann sogar die Nächstenliebe so pervertieren, daß eine Mutter in der Sorge um die fremden Kinder ihre eigenen vernachlässigt.
Der Begriff des Nächsten rekurriert so erst mal auf eine räumliche Nähe, aber auch auf eine verwandtschaftliche. So bleiben Verwandte „nahe“, auch wenn sie in der „Ferne“ wohnen und Benachbarte können als Dazuhingezogene als „Ferne“ und „Fremde“ empfunden werden. Trotzdem ist der ursprüngliche Sinn der der räumlich- verwandtschaftlichen Nähe. Als Sippe wohnte man zusammen.
Nun gibt es in Not geratene „Nächste“ - darauf konzentriert sich ja im Regelfall der Diskurs um die Nächstenliebe eingedenk der Erzählung vom „Barmherzigen Samaritaner“:Denen sei also zu helfen im Geiste der christlichen Nächstenliebe. Dies spontan so einsichtige Verhalten stößt nun aber auf eine diffizile Problemlage. Einerseits evoziert der Anblick eines in Not geratenen Menschen unsere menschliche Hilfsbereitschaft, andererseits evoziert dieser Anblick ein Fluchtverhalten, wegzugehen, denn diese „Not“ könnte eine ansteckende sein. Der an irgendetwas schwer Erkrankte könnte jeden ihn Berührenden infizieren. Auch die Scheu vor Toten ist eine Folge solcher Ansteckungsfurcht, zumindest nach Bataille, „Der heilige Eros“. Komplexer ist dann diese Ansteckungsfurcht, wenn man an die Vorstellung denkt, daß ein schlechter Umgang den Charakter verdürbe, oder daß man den Kontakt zu Erfolgreichen suchen und den von Verlieren meiden solle, weil beides mal Erfolgreiche wie Verlierer ansteckend wirkten.
So erweckt der eine Anblick des in Not Geratenen zwei völlig konträre Handlungsoptionen, die des Nähesuchens und Helfens und die des Fliehens und des „Nächsten“ in Stichlassens. Die christliche Religion gebietet nun die Hilfe für den Nächsten und verurteilt jedes Fliehen ob der Kontami-nierungsangst.
Das lägt den Gedanken nahe, daß das Konzept der Fernstenliebe eine Lösungskonzept für diesen Zwiespalt zwischen Helfen und Flüchten ist. Man hilft, aber hilft den Fernen, denen man helfen kann, ohne daß man ihnen nahe kommen muß: Meine Spende für Arme in Afrika. Den „ Nächsten“,den Armen vor meiner Haustüre darf ich dann übersehen, weil ich doch schon für die Armen in Afrika spende.
Wenn ein Mensch sich für alle Menschen gleichermaßen verantwortlich weiß, wie es etwa Dostojewski vertritt, der verunmöglicht, daß dieser Mensch noch die Nächstenliebe praktizieren kann. Es kann so nur ein schlechtes Gewissen und die Einsicht in das eigene Unvermögen zur praktischen Liebe hervorgerufen werden. Wenn aber das Gebot der Nächstenliebe ein zu realisierendes Gebot sein soll, dann erheischt es die Differenzierung von Nächsten und Nichtnächsten. Das heißt für jede Mutter, daß sie primär für ihre eigenen Kinder da ist, für den Staat, daß der Staat primär für sein Volk zuständig ist. Diese Begrenzung macht erst die geforderte Liebe zu einer auch lebbaren.
Aber es existiert immer auch die Versuchung, der Nächstenliebe zu entsagen, indem man sich in die Fernstenliebe flüchtet. Ein universalitischer Humanitarismus steht so unter dem Verdacht, ein Fliehen vor der Nächstenliebe zu sein. Denn der „Nächste“ ist immer auch der so nahe, daß er gefährlich werden könnte.
Zusatz:
Ein Mensch wird eben nicht zufällig irgendwo zu irgendeiner Zeit geboren, sondern dort und in der Zeit, in der Gott ihn da zur Welt bringen wollte. Daraus werden ihm seine Nächsten, zeitlich, räumlich und verwandschaftlich. Aber es existieren so nur Nächste, weil es auch Nichtnächste gibt.
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