Dienstag, 15. November 2022
Die bedingungslose Anpassung an den Zeitgeist
Gibt es denn keine Sünde mehr? Wenn (fast) alle das tuen, ist es dann keine mehr?
Selbst schon abgehärteten Lesern der pseudokatholischen Internetseite: Kath de müßte dieser Artikel zu schaffen machen: „Psychologe über Porno-Konsum“ am 15.11. 2022. Der Anlaß für diesen Artikel liegt klar auf der Hand: Papst Franziskus enttäuscht zusehens das linksliberale Lager in der Katholischen Kirche, das doch auf dem „Synodalen Weg“ so triumphierte. Da spricht dieser Papst in energischen Worten über die Lust und die Gefahren der Pornographie und schon widersprach man ihm, fast schon so routinemäßig wie einst jedes Wort Papst Benedikts reprobiert wurde.Der antirömische Affekt (Carl Schmitt) revitalisiert sich.
Aber noch abenteuerlicher ist die völlige Confusion moraltheologischen Denkens, die sich in diesem Artikel artikuliert. Eines ist der Diskurs darüber, was ist, wie leben heutige Menschen in Deutschland ihre Sexualität und ein anderes ist der kirchliche Diskurs, wie ein Christ seine Sexualität zu leben habe. Dank der modernen Wissenschaften ist nun das Vermögen zur Feststellung von empirisch überprüfbaren Wissen über das Sozialverhalten beachtlich gesteigert worden: Wie viel Sex hat durchschnittlich ein Mann pro Jahr mit wie vielen Partnern, aber der normative Diskurs: Wie lebt man die Sexualität angemessen?, ist fast völlig abgestorben. Jeder könne es da machen, wie es ihm gefalle, solange der Sex von allen Beteiligten dann wie auch immer einvernehmlich praktiziert würde. Der Konsens über etwas macht die Meinung über etwas zur Wahrheit, bis daß der Konsens sich auflöst.
Dazu heißt es nun in diesem Artikel: „Noch einmal: Wir gehen vom Leben aus, also der Realität. Ein Beispiel hierfür ist das Thema Selbstbefriedigung. Fast alle, also etwa 95 Prozent der Männer und 90 Prozent der Frauen, geben bei der Beratung zu, dass sie Erfahrungen mit Selbstbefriedigung gemacht haben.“ Die Realität avanciert so zur Norm der Moraltheologie. Der Leser möge einmal versuchen, dies sich vorzustellen: Gesetz den Fall, daß Untersuchungen ergäben, daß 75 Prozent aller Eltern ihre minderjährigen Kinder sexuell mißbräuchten, ergäbe das, daß nun dieser Mißbrauch kein Mißbrauch mehr wäre, weil so viele das täten? Wenn Paulus in seinem Römerbrief darlegt, daß alle Menschen vor Gott Sünder sind und so nur durch den Glauben an den Erlöser gnadenhaft gerettet werden können, dann müßte die heutige moderne Moraltheologie einwenden: Was alle taten und tuen, kann nicht als eine Sünde bestimmt werden, weil es alle so machen.
Wenn nun circa 99 Prozent aller Katholiken, das ist aber noch eine sehr optimistische Annahme, sich nicht an die Sexualmorallehre der Kirche halten, auch weil sie sie für unwahr erachten, dann ist das kein Beweis für die Unwahrheit dieser Morallehre. Zur Veranschaulichung möge ein simples Beispiel dienen: Wenn im Mathematikunterricht die Schüler aufgefordert werden, einen Kreis in ihr Schulheft zu zeichnen, wird es keinem Schüler gelingen, einen Kreis zu zeichnen, nur Gebilde, die eine Ähnlichkeit mit dem Kreis haben. Die Definition des Kreises, seine normative Vorstellung wird aber durch diese Annäherungsversuche des Kreiszeichnens nicht in Frage gestellt. Kein Lehrer käme auf die Idee, angesichts der gemalten Kreise die Definition des Kreises zu verändern. Aber der Lehrer wird auch einräumen, daß ein Schüler mit dieser Aufgabe überfordert ist: Er kann den Kreis freihändig nicht so zeichnen, daß er der Idee des Kreises gerecht wird.
Faktisch lehrt die katholische Sexualmorallehre, daß jede vorehelich gelebte Sexualität eine Sünde ist. Sie verlangt also bis zur Verheiratung von allen ein enthaltsames Leben. Nun heiraten in Deutschland Frauen durchschnittlich mit 30, Männer mit 33 Jahren. Wenn davon auszugehen ist, daß etwa ab dem 14.Lebensjahr ob der Geschlechtsreife erotisch-sexuelle Bedürfnisse im Menschen lebendig werden, dann hat das die Konsequenz, daß 16 bzw 19 Jahre lang die Christen wider ihre Natur zu leben haben bis daß sie dann sich verheiraten. Daß nun heutzutage erst so spät geheiratet wird, hat wohl den Hauptgrund in der beruflichen Vita: So lange brauchen Menschen in der Regel, um finanziell so gesichert zu sein, daß sie eine Familie sich zu gründen trauen. Das Nestbauprinzip: Er muß ein Nest erstellt werden, dann werden darin die Eier zum Ausschlüpfen gelegt.
Es bedarf keiner großen Menschenkenntnis, um einzusehen, daß eine so lange Zeit sexueller Enthaltsamkeit eine Überforderung darstellt. Nur wenigen ist es gegeben, um des Himmelreiches willen so enthaltsam zu leben. Als die Kirche die Lehre, daß jede vorehelich praktizierte Sexualität objektiv eine Sünde sei, haben die Menschen gewiß nicht erst mit 30 oder 33 geheiratet. Wenn ein Lehrer die Schüler tadelt, daß sie in ihren Schulheften keinen Kreis zeichnen konnten, tut er ihnen ein Unrecht an, denn diese Aufgabe überfordert sie. Es muß deshalb doch angefragt werden, ob diese Lehre, daß jede vorehelich praktizierte Sexualität eine Sünde sei, nicht auch die Katholiken überfordert. Die so geforderte Enthaltsamkeit ist ja ein Leben wider die menschliche Natur, denn der natürliche Fortpflanzungswille artikuliert sich nun mal in erotischen und sexuellen Bedürfnissen. Kann es da verwundern, daß 99 Prozent nicht so enthaltsam leben wollen! Daß so viele nicht gemäß der Sexuallehre der Kirche leben, ist so kein Beweis ihrer Unwahrheit, aber eine Aufforderung, über die Gründe dafür nachzudenken und nicht sich mit: Sind halt alle Sünder!zu begnügen.
Corollarium
Eine der großen Illusionen der Ethnologie war es ja, "Naturvölker" finden zu können, die noch "natürlich", nicht kulturell entfremdet ihre Sexualität lebten. Aber man fand nur anderes regulierte Sexualität.Die Sexualität muß aber geregelt werden, da den Menschen ein Mangel an der Instinktsteuerung auszeichnet, (Gehlen, der Mensch als Mangelwesen)und so Institutionen und verbindliche Moralen dies Defizit zu beheben haben. Anders gesagt: Weil der Mensch frei ist, kann er auch sinnwidrig seine Sexualität leben.
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