Die herrschenden Ideen sind die der Herrschenden: Ideologiekritik
Unter einer Ideologie sei hier eine durchreflketierte und systematisierte Weltanschauung verstanden. In ihr wird eine Weltanschauung sozusagen reflexiv. Dies evoziert nun aber die Frage, warum es denn überhaupt Weltanschauungen gibt als den Rohstoff der Ideologien. Ein Versuch: Ein Spielzug in einer Schachpartie. Dieser Zug kann nun minutiös beschrieben werden, wie er sinnlich rezipiert und beschreibbar ist. Aber verstehbar wird er erst dem, der im Wissen um das Regelsystem Schach diesen Spielzug verstehen kann, a) als einen legitimen, wenn er gemäß dem Regelsystem durchgeführt wurde und b) als einen sinnvollen, wenn er auf das Endziel des Schachmattsetzens bezogen ist. Es wird also ein Deutungsschema hier appliziert um etwas zu begreifen, das ohne es eine zwar beschreibbare aber nicht begreifbare Wirklichkeit wäre.
„Verstehst Du auch,was Du liest?“, diese berühmte Frage in der Apostelgeschichte kann so als Ausgangspunkt der Frage nach dem Ursprung der Weltanschauungen verstanden werden. Alle Wirklichkeiten sind „Texte“,die gelesen werden können, wie ein Spielzug einer Schachpartie, die aber, um verstanden zu werden, gedeutet werden müssen. Für eine Schachpartie ist das ihr zugehörige Deutungsschema eindeutig vorgegeben in dem Regelsystem des Schachspieles. Für viele Wirklichkeiten gibt es nicht so eindeutige Zuordnungen. So kann die Wirklichkeit des Menschen biologisch, soziologisch, philosophisch oder theologisch gedeutet werden. Weltanschauliche Betrachtungen des Menschen wären dann den wissenschaftlichen vorgeordnet, die dann in den Wissenschaften auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden.
Die Differenz zwischen Wissensschaften als verarbeitete Gestalten von Weltanschauungen und den Ideologien könnte dann so bestimmt werden: Wissenschaften weisen die Möglichkeit der Verifikation und Falsifikation ihrer Erkenntnisse aus, während Ideologien ihre Falsifikierbarkeit ausschließen. Während nun die Wissenschaften das Ganze ausdifferenzieren zu Wissenschaften von Teilen des Ganzen, der Natur, des Geistes und weitere Binnendifferenzierungen, conserviert die Ideologie das Anliegen einer Weltanschauung, das Ganze, die Welt zu begreifen. (Hier kann es zu Konflikten mit der Theologie und der Philosophie kommen, wenn diese beiden Diskurse sich zutrauen, noch das Ganze zu begreifen.)Ideologien gibt es also aus dem Grundbedürfnis des Verstehens heraus als Alternative und Ergänzung zu den wissenschaftlichen Diskursen, die alle in Weltanschauungen sich fundieren, um sie zu reflektieren.
Ergo: Weltanschauungen und Ideologien gibt es nicht, weil Herrschende sie erfinden, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Sie entspringen des Menschen Sein in der Welt, die ihm erst durch Weltanschauungen und dann Wissenschaften und Ideologien zu einem nicht nur lesbaren sondern auch verstehbaren Text machen.
Aber die Grundtexte sind nicht eindeutig einer Weltanschauung und dann einer Ideologie oder Wissenschaft zuordbar, wie eine Schachpartie dem Deutungssystem des Schaches. Das bildet den Ermöglichungsgrund diverser Weltanschauungen.
Nun erhebt sich die Frage, wie es kommt, daß faktisch die Herrschenden die Ideologie ihrer Beherrschten bestimmen?Darauf gibt es nun eine sehr einfache Antwort: Verschiedene Weltanschauungen und Ideologien stehen im Kampfe gegeneinander und wenn eine dann die anderen zurückdrängt oder besiegt, dann ist das die herrschende Ideologie, mit der dann auch die Herrschenden herrschen. Nur ist dieser Kampf eben nicht ein rein akademisch diskursiver, sondern ein Machtkampf, in dem Ideologien nicht einfach kritisiert werden sondern bekämpft werden.
Stabil wird eine Ideologie erst dann, wenn es kein mögliches Ereignis mehr geben kann, das von der Ideologie nicht mehr als kompatibel mit ihr gedeutet werden kann. Diese Immunisierung gegen jedes mögliche Ereignisse in der Wirklichkeit qualifiziert dann ein Deutungssystem des Ganzen, der Welt zu einer Ideologie. Das macht ihre starke Lebenskraft aus.
Zur Veranschaulichung ein sehr simples Beispiel: Ein Stammtischabend. Jemand erzählt: Irren ist menschlich. Da sah ich diesen Verkehrsunfall. Ein Wagen fuhr bei Rot über die Kreuzung und stieß mit einem anderen Auto zusammen. Aber unverletzt stieg der Mann, der über Rot gefahren war, aus seinem Auto.
Mehrere Bierrunden später. Der selbe: Frauen können nicht Auto fahren. Ein Wagen fuhr bei Rot über die Kreuzung und stieß mit einem anderen Auto zusammen. Aber unverletzt stieg eine Frau, die über Rot gefahren war, aus ihrem Auto.
Die Summe aller möglichen Verkehrsunfälle ergibt sich aus den von Männern oder Frauen oder durch einen technischen Defekt verursachten. Für jeden von Menschen verursachten gilt nun, daß der Fahrer entweder männlich oder weiblich ist. Mit diesen 2 Deutungsmöglichkeiten,Irren ist menschlich und Frauen können nicht Auto fahren, kann so jeder menschenverursachte Unfall gedeutet werden, es kdnn keinen Unfall geben, der nicht auf eine der 3 Möglichkeiten hin interpretierbar ist.Deshalb kann dieser Stammtischgast auch durch keine Erfahrung in seiner Unfalllideologie widerlegt werden. Sie ist erfahrungsresistent.Das macht die Lebenskraft von Ideologien aus, die so, herrschen sie einmal, kaum noch widerlegbar sind.
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