Tatsachen
und Deutung-gibt es etwas Eindeutiges auf Erden?
Es gibt
Ereignisse und Deutungen der Ereignisse. Daß Jesus von Nazareth am
Kreuz gestorben ist, gilt als historisches Ereignis. Daß er für
unsere Sünden gestorben sei, dagegen als eine kontingente Deutung
dieses Ereignisses. Daß Schülern Jesu nach seinem Tode Jesu
erschienen ist, gilt als mögliches historisches Ereignis, daß Jesus
von den Toten auferstanden ist, als eine kontingente Deutung dieses
möglichen Ereignisses. Ein Dualismus entsteht so: die Welt der
Tatsachen und die Welt der kontingenten Deutungen der Tatsachenwelt.
Die Welt der Tatsachen wäre dann die Welt der exakten
Wissenschaften, die der Deutung die der Geisteswissenschaften und
damit auch der Religion. Ja, in den Geisteswissenschaften
reproduzierte sich dieser Dualismus nochmals. So werden die
historischen Tatsachen: wer wann wo was geschrieben hat,
unterschieden von der Frage der Deutung des Geschriebenen.
Im
Religionsunterricht werden die Schüler in diesen Dualismus schon
eingeführt. Da ist die historische Person Jesus und seine
theologische Deutung als Sohn Gottes im jüdischen Kontext
adaptionistisch und im griechischen Kontext biologisch gemeint.
Diese vom jeweiligen kulturellen Kontext abhängigen Deutungen
sollen aber nun nur in verschiedener Sprache das eine ausdrücken,
daß Jesus ein besonders innig mit Gott verbundener Mensch war;
früher hätte man das „fromm“ genannt.
Tatsachenaussagen
sind veri- bzw. falsifizierbar, Deutungen dagegen werden nach ihrem
Sinn befragt: ist diese kontingente Deutung eine sinnvolle? Aus dem
Deutschunterricht ist jedem die berühmte Pädagogenfrage: Was will
uns der Dichter damit sagen? wohlvertraut und auch das Phänomen, daß
am Ende der Unterrichtsstunde viele mögliche plausible Deutungen des
literarischen Werkes im Raume stehen, aber keine sich als die einzig
wahre gegenüber den anderen durchsetzen konnte. Bleibt uns so nur
die Welt der Tatsachen und eine unendlich große Menge von möglichen
Deutungen dieser Tatsachen? Wir könnten dies poststrukturalistisch
inspiriert deuten als das Schicksal aller Texte: daß alles zum
unendlich manningfaltig auslegbaren Texten geworden ist.Zu der
Tatsache, daß es Grundtexte gibt, gesellt sich die Erkenntnis der
Polyinterpretabilität aller Grundtexte in Gestalt der
Sekundärliteratur.
Die
christliche Religion würde so zu einer von vielen möglichen
Deutungen der Welttatsachen. Veranschaulichen wir uns das am Phänomen
des leeren Grabes. Wenn das Grab leer war, kann dies gedeutet werden
als: Jesus ist von den Toten auferweckt worden oder als: seine
Schüler entfernten den Leichnam, um dann zu behaupten, er sei
auferstanden. Selbstverständlich sind auch andere Ausdeutungen
möglich: daß Jesus scheintot war, oder daß das leere Grab gar
nicht das gewesen wäre, in das er wirklich gelegt worden ist. Ja,man
kann auch sagen, daß weil die Schüler Jesu nach dem Tode meinten,
ihn gesehen zu haben,nicht als bloßen Geist sondern körperlich, sie
davon überzeugt waren, daß deshalb auch das Grab leer sein müsse.
Darum hätten nach Ostern dann die Gemeinden die Vorstellung vom
leeren Grab entwickelt, nicht als historische Tatsache, sondern als
Folgerung aus den österlichen Jesuvisionen. Die historische Kritik
nennt das dann eine Gemeindebildung.
Novalis
bezeichnet als Wesenszug aller echten Poesie: „Ein Gedicht muß
ganz unerschöpflich seyn, wie ein Mensch“.1
Es scheinen sich nun alle Tatsachen in unerschöpflich deutbare
Gedichte verwandelt zu haben. Die große Versuchung wäre es nun,
sich auf einen reinen Positivismus zurückzuziehen und die Deutung
der Tatsachen der Privatvorliebe den Lesers zu überlassen. Eines
wäre damit für die christliche Religion gewonnen: sie stünde nicht
mehr unter dem Generalverdacht einer abergläubischen irrationalen
Weltdeutung, sondern sie reihte sich als Ausdeutungssystem ein in die
anderen Weltauslegungssysteme-gleichberechtigt neben den anderen,
weder falsi-noch verifizierbar. Aber mehr wäre sie dann auch nicht.
War Jesu
Grab leer, weil er von den Toten auferstanden, weil er nur scheintot
oder weil er von seinen Schülern entfernt worden ist aus dem Grab
oder war das leere Grab gar nicht das, in das er hineingelegt worden
ist? Das leere Grab ist so polyinterpretabel wie die Erscheinungen
Jesu nach seinem Tod. Keine dieser Deutungen kann heute verifiziert
oder falsifiziert werden!
Es ist ja
bezeichnend, daß im Kampf um die historische Person Jesu Tatsachen
als wahr anerkannt werden von den beiden Konfliktpartien, den
jüdischen wie den christlichen Deutern der Person Jesu, daß sie
aber nur verschieden ausgedeutet werden.Einen sehr gediegenen
Einblick in die jüdische Deutung der Person Jesu bietet der
Judaistikprofessor Peter Schäfer in seiner Studie: „Jesus im
Talmud“2.
Daß Jesu Vater nicht Joseph war, da stimmen Christen und Juden
überein. Für den babylonischen Talmud ist aber ein Römer Vater
Jesu, mit Namen Pantera.3
Verschiedene Schreibweisen gibt es für diesen Namen, der evtl auch
eine Verballhornung des griechischen Wortes für Jungfrau sein
könnte. Jesu Aufenthalt in Ägypten werden zu seinen Lehrjahren in
ägyptischer Magie, sodaß er eben auch als Zauberer zu Tode
verurteilt wird vom Hohen Rat der Juden4.Das,
was in christlicher Deutung ihn als Sohn Gottes auszeichnen soll,
seine wunderbare Geburt und seine Wunder werden hier gedeutet als
Indizien dafür, daß er gewiß nicht der Messias Israels ist. Aus
der Jungfrauengeburt wird ein Fehltritt Marias, aus seinen Wundern
magische Zauberei.Nicht wird das Ereignis des Wunderwirkens
bestritten, sondern das Wunder wird daimonisiert zur Zauberei!
Die moderne
historische Forschung nimmt Anstoß an den Wundererzählungen, weil
es für sie keine Wunder geben darf und deutet dann die
Wunderezählungen um zu fiktionalen Erzählungen, die aber etwas
bedeuten, aber keine Realien erzählen. So habe Jesu nicht den Sturm
gestillt, als seine Schüler verängstigt im Boote ihren Untergang
vor Augen hatten, sondern diese Geschichte drückt nur den
urchristlichen Vertrauensglauben aus, daß Jesus in jeglicher Not
helfe. Die Geschichte, die Vertrauen in Jesus erwecken soll, wird so
zu einer fiktiven Erzählung, die den unabhängig von dieser
Erzählung vorhandenen Vertrauensglauben veranschaulichen soll.
Zu Zeiten
Jesu wurden dagegen die Wunder nicht bestritten. Ihre Kritiker warfen
der Urgemeinde nicht vor, sie erphantasiert zu haben, sondern sie
deuteten sie anders: Jesu habe sie in Kraft von Daimonen gewirkt. So
wird das ihn als göttlichen Sohn verifizieren Sollende zur Anklage
wider ihn.
Die jüdische
Umdeutung findet dann ihren Höhe- und Endpunkt in der Umformung der
Himmelfahrtserzählung Christi. Der christlichen Erzählung von der
Himmelfahrt Christi wird dann konsequenterweise die Erzählung von
der Höllenstrafe Jesu entgegengesetzt. Er wäre in der Hölle in
siedenem Kot.5So
das Antibild Jesu im jüdischen Talmud.
Die
Tatsachen werden gedeutet und erst die gedeuteten Tatsachen lassen
die christliche Religion entstehen. Aber jeder Akt der Deutung
evoziert den Generalverdacht, daß hier nur eine von vielen möglichen
Deutungen präsentiert wird, die keinen Anspruch auf alleinige
Wahrheit erheben kann.
Ist Deutung
ein subjektiver Akt vollzogen an einem Objektiven, wird so die
Religion zu einem rein Subjektiven. Ich glaube hieße dann, daß ich
an meine Deutung für wahr halte und so auf sie vertraue. Glaube wäre
so eine Form defizitärer Erkenntnis.
Einen nicht
unproblematischen Ausweg daraus soll die Vorstellung der rein
persönlichen Begegnung mit Jesu bilden. Der Kern dieser Vorstellung
ist, daß Jesus so begegnet, daß er darin unmittelbar erkannt wird:
unmittelbar ohne daß dies unmittelbare Ereignis sekundär gedeutet
und damit dem Spiel der Dekonstruktionen der ergangenen Deutung
ausgeliefert würde. Aber dies Ideal einer unmittelbaren Erkenntnis
ist eben eine reine Konstruktion, die der menschlichen Erkenntnis
gerade nicht gerecht wird. Wir erkennen Jesus als etwas und dies als
etwas ist eben nicht mehr in der unmittelbaren Anschauung, sondern
ist ein Produkt menschlichen Denkens. Und das heißt: Produkt einer
bestimmten Deutungskultur.
Wollten wir
Gott mit einem Dichter vergleichen, er wäre im Sinne von Novalis ein
wahrer Poet, weil er unerschöpflich ausdeutbare Grundtexte schrieb,
die Schöpfung, die Welt, das Leben Jesu, usw. Wir Leser stünden nun
vor diesen Texten mit der Aufgabe der rechten Ausdeutung. Christen
sind wir, weil wir die christliche Ausdeutung als die wahre glauben,
weil nur in ihr die Autorenintention begriffen wird. Aber die Texte
emanzipieren sich vom Autoren. In der postmodernen
Literaturwischenschaft spricht man da gern vom Tode des Autors. So
Roland Barthes.6
Der Text entschwindet der Herrschaft seines Verfassers und setzt
sich seinen Lesern aus. Die Ursprungsintention wird dabei zum
unerkennbaren Ding an sich, in freier Anlehnung an Kant.
Aber was ist
nun wahr und wie ist die wahre Deutung zu erkennen? Belsey
respondiert uns diese Frage mit: „Besonders junge Leute sind häufig
bereit, die Vorstellung von Wahrheit aufzugeben“.7
Wie wird dies Urteil nun begründet? Zwei Gründe nennt sie. Erstens
„begegnen wir, wenn wir im globalen Dorf umherreisen, und sei es
nur im Fernsehen oder im Internet, einem breiten Spektrum von
Weltanschauungen“.8
Die Faktizität der Vielfalt der Weltdeutungen läßt nicht mehr zu,
eine als die wahre zu erkennen. Der zweite Grund verweist auf die
Folgen einer erkannten und als im Besitz sich befindenden Wahrheit:
„Tatsächlich hat ein Jahrhundert politischer Gruppierungen, die
die Wahrheit, wie sie sie verstanden, nicht nur verteidigen, sondern
verherrende Gewalt gegenüber Menschen ausübten, die ihre
Überzeugung nicht teilten, bei vielen von uns ernsthafte Zweifel an
an der Behauptung von Wahrheitsansprüchen geweckt.“9
Daß die erkannte Wahrheit zum Terror gegen die Ungläubigen führe,
diese Deutung totalitärer Herrschaft von Ideologen, ruft so also den
Wunsch auf den Verzicht von jeder Art von erkennbarer Wahrheit
hervor. Die Freiheit der Beliebigkeit der Ausdeutbarkeit der Welt
wird so die Schreckensherrschaft der einen erkannten Wahrheit
gegenübergestellt. Die Kenntnis der Welt der Tatsachen reicht so für
die Zivilisation als naturwissenschaftlich-technische Beherrschung
der Welt aus, dem dann das unbegrenzte Reich der Freiheit der
beliebigen Weltdeutungen zur Seite gestellt werden kann.
Warum deuten
wir Tatsachen und verweilen nicht einfach in der Tatsachenausagewelt.
Warum bilden wir Menschen noch dazu eine Welt von Deutungssätzen?
Die Antwort: weil Tatsachen bedeutungslos sind,liegt nahe.
Tiefgründiger
argumentiert da C. Pagilla: „Die Macht der Kultur, der Trost der
Religion:darauf konzentriert er sich, daran glaubt der Mensch.“10
Der Mensch lebe in einer lebensfeindlichen chaotischen Welt, die er
sich humanisierend umdeutet, denn der Mensch bedürfe der Illusionen,
um in dieser Welt leben zu können. „Der Glaube, daß Natur und
Gott im Grunde gut sind,ist einer der wirkungsvollsten
Mechanismen,über die der Mensch zum Überleben verfügt. Ohne diesen
Glauben fiele die Kultur wieder der Angst und Verzweifelung anheim.“11
Aber die Nützlichkeit erweist nicht die Wahrheit der Religion-nein,
ihre Abqualifizierung als Illusion wirft den Leser zurück in die
Welt der Tatsachen, die er sich nur um eines guten Lebens willen
umdeutet zur guten Schöpfung. Und diese Deutung ist kontingent und
somit auch willkürlich gesetzt. Aber dies Beispiel sollte uns
stutzig machen! Denn was Pagilla hier als Welt der Tatsachen
präsentiert, ist ja schon selbst eine Deutung der Welt. „Aber ein
Schulterzucken der Natur, und alles liegt in Trümmern. Brände,
Überschwemmungen, Gewitter, Unwetter, Wirbelstürme, Erdbeben-all
das droht jederzeit und überall. Katastrophen treffen
unterschiedslos Gute und Böse.“12
Das ist aber keine Tatsachenbeschreibung sondern eine Deutung der
Natur als etwas dem Menschen Entgegengesetztes. Und diese darin schon
vollzogene Deutung soll nun umgedeutet werden um eines humanen Lebens
willen: „Das zivilisierte Leben bedarf der Illusion.“13
Bezeichnend ist dabei, daß die um der Humanisierung willen
vollzogene Deutung als Illision dysqualifiziert wird, während die
Deutung der Natur als etwas Menschenfeinliches als Tatsache vertreten
wird. Die Differenz von Tatsachenaussagen und Deutungen dieser
Aussagen zerfließt, wenn nachgefragt wird: enthalten die
Tatsachenaussagen nicht auch schon Deutungen?
Schon die
Aussage, daß ein Wunder Jesu unterschiedlich gedeutet werden kann,
greift ja schon zu kurz. Die Kategorie des Wunders ist ja selbst
schon wieder eine Deutung eines Wirkens Jesu. Ist überhaupt eine
Aussage über ein Ereignis möglich, ohne daß in dieser Aussage eine
Deutung mitenthalten ist? Sollte sich so der Dualismus von
Tatsachenaussage und Deutung auflösen zu der, daß alles Deutung
ist? Man denke an das Nietzschewort:„Gegen den Positivismus,
welcher bei den Phänomen stehen bleibt,es gibt nur Tatsachen, würde
ich sagen:nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur
Interpretationen.“14
Für die christliche Theologie ist diese Frage nicht irrelevant.
Sonst stünde die christliche Religion als Deutungskultur der Welt
und des Lebens neben der Welt der Tatssachenaussagen. Sie unterwürfe
sich so selbst dem Generalverdacht eines rein imaginären
Hilfskonstruktes, damit der Mensch besser in der Welt zurecht käme.
Trotzdem empfiehlt der evangelische Theologe D.Korsch, Religion und
auch die christliche als Deutungskultur zu verstehen im Gegensatz zu
den exakten Wissenschaften der Tatsachenerforschung15
.
Ist Jesu
Sühnetod eine Tatsache oder eine Deutung seiner Hinrichtung?, lautet
so die Zentralfrage des christlichen Glaubens. Es sei en passent an
die Infragestellung dieser Glaubenswahrheit durch den Vorsitzenden
der Deutschen Bischofskonferenz Zolitsch erinnert.Für das gläubige
Bewußtsein ist diese Frage eindeutig respondierbar: es ist eine
Tatsache. Aber für das historisch-kritische Bewußtsein ist das nur
eine mögliche Deutung des Ereignisses seiner Hinrichtung. Die
Auflösung der Bedeutung des Zentralereignisses der Kreuzes Jesu für
die christliche Religion wird ja so gerade innerkirchlich mit den
Argumenten der historisch-kritischen Methode geführt, die das „Für
uns“ des Kreuzes zum bloßen möglichen Interpretament
herabwürdigen.
Was
innerhalb des religiösen Bewußtseins als Tatsachenaussage gilt, daß
Jesus die Wunder als Sohn Gottes gewirkt hat, daß er für uns am
Kreuze gestorben ist, das ist für das historische Bewußtsein nur
eine Deutung einer Tatsachenaussage. Nimmt das religiöse Bewußtsein
das historisch kritische in sich auf, dann wird es urteilen, daß es
weiß, daß Jesus am Kreuze gestorben ist, das ist historisch als
wahrscheinliches Ereignis wißbar, und daß es glaubt, daß dieser
Kreuzestod ein Tod für uns ist. Damit wird ihm aber der Glaube zu
einer subjektivistischen Deutung von Tatsachen!
Eine
einfache Rekonstruktion: wie habe den der historische Jesus seinen
Tod verstanden?, wenn das eindeutig erforschbar wäre, würde uns
wieder nur vor die Frage stellen: Ob denn Jesu eigene Deutung seines
Todes, bloß weil sie die seinige ist, auch wahr ist? Und wir stünden
wieder vor einer
Tatsache und
einer religiösen Deutung dieser Tatsache.
Gibt es aus
diesem Problem einen Ausweg? Versuchen wir es mit einem einfachen
Problem. Lese ich, daß der Spieler A den Springer setzt, und
„Schachmatt“ sagt, dann kann ich die mit dieser Aussage
beschriebenen Tatsachen nur deuten, wenn ich sie als einen Spielzug
einer Schachpartie begreife und dann kann ich die Tatsache richtig
deuten. Undeutbar wird für mich diese Tatsachenaussage nur, wenn ich
sie isoliert vom Ganzen als Einzeltatsache wahrnehme und dann
versuche, zu deuten. Die Polyinterpretabilität des Ereignisses, der
Tatsache resultiert so daraus, daß ich das eine Ereignis aus seinem
Gesamtkomtext abstrahiere und als isolierte Tatsache wahrnehme und
dann zu deuten versuche. Erst als ein Teil des Ganzen verliert diese
Tatsache ihre Bedeutungslosigkeit. Nur als isoliertes Ereignis kann
es vielfältigst gedeutet werden. So meint jeder den Satz: „Ich
gehe zur Bank“ zu verstehen, aber nicht sagen, ob der Satz eine
Sitzbank oder eine Geldbank meint. Nur der Kontext dieses Satzes
erschließt uns seine Bedeutung, ob an eine Sitz-oder an eine
Geldbank zu denken ist.
Das Leben
Jesu ist so nicht eine Reihe von Einzelereignissen, die jede für
sich als Tatsache fixierbar und dann ausdeutbar ist, sondern eine
Ganzheit, wobei diese Ganzheit selbst wiederum die Fortsetzung der
altestamentlichen Gesamterzählung ist. Es soll so die These
aufgestellt werden: Erst, wenn Einzelnes als Teil dieser Totalität
begriffen wird, wird das Einzelereignis zu einem sinnvollen Glied des
Ganzen, das nicht mehr in der Spannung von Tatsache und Deutung
steht.
Zur
Veranschaulichung:
Die
Osterbotschaft ist uns Christen vertraut, vielleicht schon zu
vertraut, um das Problematische an ihr noch wahrnehmen zu können.
Jesus starb am Kreuz und wurde drei Tage danach lebendig gesehen. Er
erschien Schülern von ihm. Dies Erscheinen ist nun
polyinterpretabel. Die Gegner des Paulus im 1.und 2. Korintherbriefes
argumentierten wohl so: wenn Jesus leiblich-körperlich von den Toten
auferstanden ist, dann ist er nur auferstanden, um wieder sterben zu
müssen, weil alles Körperliche zum Sterbenmüssen bestimmt ist. Die
Vorstellung einer leiblichen Auferstehung aller Menschen würde sie
so nur zu einem neuen Sterbenmüssen auferstehen lassen. So ist ja
auch Lazarus von den Toten durch Jesus auferweckt worden, aber nicht
zum ewigen Leben, sondern nur zu einem, das wieder im Tode enden
wird.Darum meinten sie, daß Jesus nur als unsterbliche Seele
auferstanden sei, wie auch alle Menschen, um ewig leben zu können,
nur als Seele ewig leben können. Paulus widerlegt nun diese
Vorstellung durch die These, daß nicht von allen Körpern die
Aussage gilt, daß sie sterblich sind durch seine große
naturphilosophische Reflexion im 15. Kapitel des 1.Koriuntherbriefes.
Wie konnte
nun Paulus seine Damakuserscheinung verstehen als: daß Jesus zum
ewigen Leben auferstanden ist und nicht etwa wie Lazarus nur zu einem
weiteren endlichen Leben, das sein Ende im Tode findet? Und wie
konnte er zu dem Urteil kommen, daß in Jesu Auferstehung wir das
sehen, was uns allen verheißen ist? Henoch ist nicht gestorben
sondern von Gott entrückt worden in den Himmel. Aber kein Deuter
dieses Ereignisses erklärte dies zum Grund auf die Hoffnung, daß
alle oder alle Gläubigen und Gerechten wie Henoch in den Himmel
aufgenommen werden, ohne zu sterben. Henochs Entrückung bleibt ein
singuläres nur ihn betreffendes Ereignis. Es zeigt nur, daß es
möglich wäre, daß Gott Menschen entrücken kann, um sie so vor dem
Tode zu bewahren, aber nicht, daß er andere so auch entrücken
wird.Wie war für Paulus am Ereignis des Erscheinens Jesu nach seinem
Kreuzestod erkennbar, daß dies ein Ereignis ist, das einen
Verheißungscharakter für uns alle hat: daß alle, wie Jesus
auferweckt werden am jüngsten Tage?
Dem
Ereignis, der Tatsache des Erscheinens ist all dies nicht ablesbar;
es sei denn, wir meinten, Jesus habe das Paulus alles selbst
offenbart. Das Ereignis wurde im Urchristentum gedeutet und erst
diese Deutung schuf das Ostereignis. Sonst wäre es nur ein für Jesu
bedeutsames Ereignis, ähnlich wie die Auferweckung Lazarus, die ja
auch nicht in sich die Verheißung inkludiert, daß wir alle wie
Lazarus auferweckt werden. Und woran erkannte Paulus, daß Jesus zu
einem ewigen Leben erweckt worden ist und nicht nur zu einer
Verlängerung seines Lebens, wie Lazarus? Seine Gegner in Korinth,
wahrscheinlich christlicher Gnostiker, argumentierten ja nicht
uneinsichtig mit der These, daß Körperlichkeit Sterbenmüssen
heißt. In Folge dieser Auseinandersetzung mit den christlichen
Gnostikern (Vgl 1.Korinther 15 und 2.Korinther 5) schreibt Paulus im
Römerbrief: „Wir wissen, daß Christus, von den Toten auferweckt,
nicht mehr stirbt: der Tod hat keine Macht mehr über ihn.“ Röm
6,9. Dies ist das paulinische Eingeständnis an seine gnostischen
Kritiker, daß die Aussage, Jesu sei von den Toten auferstanden,
mehrdeutig ist und so der ergänzenden Kommentierung bedarf.
Paulus, als
gläubiger Pharisäer hofft und glaubt an die Auferstehung der Toten
am Ende der Zeit als an eine Auferstehung zum ewigen Leben. Paulus
sagt selbst, daß er die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten wie
die Pharisäer verkünde. (Apg, 23,6) Nicht begründet die
Erscheinung von Jesu bei Damaskus Paulus Hoffen auf die Auferstehung
der Toten, die glaubte er schon als Pharisäer, sondern sein
pharosäischer Glaube ist der Grund für seine Deutung der
Erscheinung Jesu. Dieser Hoffnungsglaube deutet ihm nun das
Damaskusereignis: Jesus ist der Erste der allgemeinen
Totenauferstehung. Mit diesem Ereignis beginnt das Ende des alten
Äons und der neue, das Reich Gottes bricht an. Die Tatsache des
Erscheinens Jesu nach Karfreitag zeichnet sich so in eine vorgegebene
religiöse Vorstellung ein und dadurch erst wird diese Tatsache zum
christlichen Osterereignis. Wird das Ereignis als Tatsache des
Erscheinens Jesu abstrahiert aus dieser Totalität der Vorstellung
von der allgemeinen Totenauferstehung am Ende der Welt, dann wird
dies Ereignis zu einem polyinterpretablen Ereignis, das in sich keine
Bedeutung mehr hat. Wenn ich einen Spielzug einer Schachfigur
abstrahiert aus dem Gesamtspiel Schach betrachte, wird diese Handlung
sinn-und bedeutungslos und kann dann wieder neu gedeutet werden. Aber
neu deutbar ist diese Handlung nur, weil sie zuerst aus dem
Gesamtsinngefüge herausgenommen wurde und so zu einem abstrakten
Ereignis wurde. Die Erscheinungen Jesu nach seinem Tod könnten für
sich allein genommen,nämlich nicht die christliche Osterhoffnung
begründen, daß auch wir hoffen dürfen, vom Tode auferweckt zu
werden!Warum sollte den ein Ereignis, das einen betraf, daß er
auferweckt wurde, alle betreffen, daß alle so erweckt werden?
Wir könnten
also sagen, daß nur wenn die Ereignisse Jesu, seine Geburt, seine
Wunder, sein Kreuz und seine Auferstehung im Gesamtkontext der Hl.
Schrift gelesen wird, diese Ereignisse ihre Bedeutung bekommen. Die
Aussage des Neuen Testamentes, daß in Jesu die Verheißungen der
Propheten erfüllt worden sind, darf so nicht als sekundäre
Erweiterung der ursprünglich unmittelbaren Erfahrung an Jesu
verstanden werden, sondern als Voraussetzung dafür, daß diese
Tatsachen erst zu bedeutsamen Ereignissen wurden.
Was bliebe
denn von den Wundern Jesu übrig, löste man sie aus dem
Altestamentlichen Kontext? Mirakel, die so oder so gedeutet werden
könnten. Erst der Nominalismus, dem alles Einzelne nur etwas ist,
löst die Sinntotalität auf und läßt ein Meer von Einzelteilen
übrig, die jedes für sich sinn-und bedeutungslos ist. Und das
bildet dann die Kehrseite der Polyinterpretabilität dieser
Tatsachen.
Aber sind
denn nun die Einzeltatsachen eindeutig durch die Sinntotalität des
Ganzen festgelegt?
Konnten
fromme Juden denn nicht in den Wundern Jesu einen ägyptisch
geschulten Magier erkennen? Bis heute sieht das talmudische
Judentum Jesus so. Man könnte sagen, daß Jesu Wunder im Kontext des
Alten Testamentes gelesen, nicht so eindeutig sind, daß sie nur
christlich auslegbar sind. Zur religiösen Tradition gehört eben
auch der Glaube an die Möglichkeit von magischen Praktiken, die aber
von Gott als Nichterlaubte verurteilt werden, aber nicht als
Nichtmögliche. Es ist eine menschliche Möglichkeit, Tote zu
befragen-und das ist unbestreitbar eine magische Praxis, aber es ist
eine, die mit der Anerkennung des Herrseins Gottes nicht vereinbar
ist.
Jesu sagt
aber: wenn ihr Mose und den Propheten glauben würdet, dann würdet
ihr auch an mich glauben . Vgl:Joh, 5,46. Danach sind seine
Wundertaten eindeutig durch den Gesamtsinnzusammenhang definiert . In
Jesu Wunder nicht göttliches Wirken zu erkennen, wäre ein Akt des
Unglaubens. Und darum heißt es ja im Johannesevangelium: daß alle
Wunder Jesu aufgeschrieben wurden, damit wir glauben, daß Jesus der
Christus ist (Joh,20,31)
So soll hier
die Vermutung ausgesprochen werden, daß erst der Nominslismus, für
den es nur Einzeldinge und Einzeltaten gibt, der Grund dafür ist,
daß uns die Welt zerfällt in die der Einzeltatsachen und die der
möglichen Deutungen der Tatsachen. Es ist der Verlust des Sinnes für
das Ganze, die Sinntotalität, die jedem Teil von ihr seinen Sinn
zuweist, der dieses Problem dieser Dualität so groß macht. Aber es
muß auch konstatiert werden, daß selbst im Lichte der Alten
Testamentes es möglich war, das Leben Jesu zu verkennen, wie es
nicht nur der Talmud zum Ausdruck bringt! Aber dies Nichterkennen
wird nun als Unglaube verurteilt. Das setzt aber voraus,
daß das
Leben und die Wunder Jesu im Lichte des Hl. Schrift gelesen eindeutig
erkennbar waren.
Aber eine
Frage bleibt nun doch noch unbeantwortet: gibt es Tatsachenaussagen,
die nicht immer schon auch Deutungen implizieren? Könnte es sein,
daß die Dualität von Tatsachenaussagen und Deutungen der Tatsachen
rückfürbar ist darauf, daß Aussagen der Hl. Schrift aus ihrem
Gesamtsinngefüge herausgenommen und dann in einem anderen
Deutungsraum eingezeichnet werden, so daß sie so erst zu nackten
Tatsachen werden, die vermeintlich nachträglich religiös gedeutet
wurden? Das Ereignis 586 v. Christus kann aus dem Kontext des
deuteronomistischen Geschichtswerkes (von 1. Samuel bis zu 2.Königen)
abstrahiert werden und eingeschrieben werden in den Vorstellungsraum
der Kriege zwischen Völkern. Dann war dies eine militärische
Niederlage und es könnte historisch nach den Gründen dieses Krieges
und der Niederlage Judas geforscht werden. Hier gibt es dann nicht
ein Einzelereignis, die Tatsache, daß...sondern ein im
Vorstellungsraum der Völkerkriege eingezeichnetes und gedeutetes
Ereignis. Impliziert kann dann der Deuteronomistischen Theologie der
Vorwurf gemacht werden, daß sie das Ereignis in den religiösen
Vorstellungsraum des von Gott geführten Bundevolkes einzeichnet,
sodaß statt einer militärischen Niederlage ein Strafgericht Gottes
in dem Ereignis 586 v. Chr. Gesehen wird. Was ist nun hier eine
Tatsachenaussage und was eine Deutung. Vorschnell wäre die
Antwort:die Vorstellung einer militärischen Niederlage wäre eine
Tatsache und die Vorstellung des Gerichtes Gottes dagegen nur eine
Interpretation dieser Tatsache. Wir haben es stattdessen mit zwei
Deutungen eines Ereignisses zu tun, die sich aus der Einschreibung in
verschiedene Vorstellungsräume ergibt, dem des Kriegerischen und dem
des Religiösen.
So gesehen
könnte geurteilt werden, daß es nur Tatsachenaussagen in immer
schon vorher gewählten Vorstellungsräumen gibt und daß durch diese
die Ereignisse erst zu Tatsachen werden, zu gedeuteten Ereignissen
nämlich. Die Polyinterpretabilität des Lebens und Wirkens Jesu
ergäbe sich so erst aus dem Kunstgriff der Herausnehmung von
Einzelereignissen aus dem Leben Jesu und der Möglichkeit, sie nun in
andere Vorstellungsräume einzuzeichnen und je nach dem gewählten
Vorstellungsraum zu deuten! Werden die Einzelaussagen aber im
Gesamtsinn der Schrift gelesen, dann erst verlieren sie ihre
Polyinterpretabilität!
1Zitiert
nach: Frank, Manfred, Vom unausdeutbaren zum undeutbaren Text, in:
Franl, Manfred, Was ist Neostrukturalismus? 1983,S.573.
2Vgl:
Schäfer, Peter, Jesus im Talmud, 2007.
3Vgl:
Schäfer, Peter, S.29-49.
4Vgl:
Schäfer, Peter, S.129-152.
5Vgl:
Schäfer,Peter, S. 167-189.
6Vgl:
Besley, Catherine, Poststrukturalismus, 2013, S.31ff.
7Besley,
Catherine, Poststrukturalismus 2013, S. 105.
8Besley,
a.a.O. S.105.
9Vgl:
Belsey, a.a.O. S.105.
10Pagila,C.,
Die Masken der Sexualität, 1992, S.11.
11Pagilla,
C., Die Masken der Sexualität, 1992 , S.12.
12Pagila,S.,Die
Masken der Sexualität, S.11f.
13Pagila,
S. Die Masken der Sexualität, S.12.
14Nietzsche,
F., Aus dem Nachlass des Achtigjägrigen, in: Schlechta, K.,
Friedrich Nietzsche, Werke IV, 1984, S.903.
15Vgl:
Korsch. D., Dogmatik im Grundriß, 2000.
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