Donnerstag, 9. Oktober 2014

Liberal-rigoristisches Christentum!

Wärest Du doch kalt oder heiß!
Oder wider den liberalen Rigorismus des Agnostizismuses

Feindschaft gegen Liberale gilt vielen Leuten als anstößig“, mußte schon A. Mohler in seinem Traktat: „Gegen die Liberalen“1988 konstatieren. „Sind sie denn gegen die Freiheit? Sollen die Menschen nicht nett zueinander sein?“1 Wer vermag, da mit einem: „Nein“ zu antworten? Freisein und Netzueinandersein, wenn das gelebte Liberalität ist, wer wollte dann ein antiliberaler Geist sein? Und es hält sich ja hartnäckig das Gerücht, daß dieser Jesus von Nazareth, selbstredend nicht der kirchlich dogmatisch verzerrte Gottessohn Jesus Christus auch ein wahrer Jünger gelebter und gelehrter Liberalität gewesen sein soll in seinem Dauerkonflikt mit den zeitgenössischen Dogmatikern und Scholastikern seiner Zeit, den Pharisäern und Schriftgelehrten. Und vervollständigt werden soll dieses Liberalenbild nun durch die Erinnerung an Pontius Pilatus mit seiner großen Frage: „Was ist Wahrheit?“, die ihm eine unbeantwortbare und nicht beantwortet werden sollende Frage ist im Kontrast zu den fanatisierten Volksmassen, die den Tod Jesu einfordern, so daß Pilatus agnostisch gestimmt Jesu freilassen will, da er sich so der Anfrage Jesu: „Ich bin die Wahrheit“; „Glaubst Du das?“ entziehen will.

Aber fangen wir langsam an, um hier die Zusammenhänge in den Blick zu bekommen. Heinrich R. Robben hat in dem Artikel: „Der Mensch steht im Zentrum“2 sehr feinsinnig und treffend das Fundament der Ideologie des liberalen Denkens ergründet in der These des Agnostizismuses, des Nichterkennenkönnens des Wahrheit als dem Fundament liberaler Lebenspraxis. Jede Ideologie als Weltdeutung gibt auch Rechenschaft über das Verhältnis von Denken, Ideen, Begriffen zur Realität als Fundamentierung der Bestimmung des Weltverhältnisses des Menschen. Daß auch die liberale Weltanschauung keine voraussetzungslose spontan sich ereignet habende Weltdeutung ist, sondern ideengeschichtlich gesehen auf den spätmittelalterlichen Nominalismus eines W. von Occam zurück-verweist, ist eine wirklich plausible These, die aber die Frage unbeantwortet läßt, warum denn eine so skeptizistische Erkenntnistheorie so viele zeitgenösische Jünger findet, daß sie fast schon zum Gemeinsinn und Vulgärgut aller Zeitgenossen werden konnte. Ja, daß sie selbst unter den Nachfolge-jüngern Jesu, der von sich sagt: „Ich bin die Wahrheit“ in Liebe aufgenommen wird, so sehr, daß da der bekannt- vertraute Vorwurf der lauen Liebe aus der Johannesoffenbarung nicht recht trifft ob der Feurigkeit und Leidenschaft des liberalen Ansinnens, wie es in liberal- katholischen Kreisen zelebriert wird.

Drei Begriffe, die der Freiheit, der Wahrheit und des Netzueinanderseins (gleich tolerantsein) sollen nun, wie sie dem liberalen Deutungsparadigma zu Grunde liegen, in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander rekonstruiert werden, um so das zutiefst problematische und spannungs-reiche Verhältnis von liberaler Weltanschauung und dem theologischen Denken zu begreifen.Nähern wir uns dieser Problematik an, indem wir nun einen Umweg in Kauf nehmen, nicht in medias res einsteigen, sondern um von der gelebten Toleranzliberalität in der Praxis zeitgenössischen Unter-richtens her erste Einsichten und Erkenntnisse zu gewinnen.

Imaginieren wir uns eine Religionsunterrichtsstunde höherer Klassen zum Thema: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ (Markus 8,29), worauf die Schüler zwischen Interesse und Desinteresse schwankend die mannigfaltigst verschiedensten Antworten zum besten geben und der Lehrkörper, ganz angetan von der Lebendigkeit des Unterrichtes und der Vielzahl der Antworten betont, daß es wichtig sei, daß jeder und jede seine und ihre ganz persönliche Antwort auf diese Frage gäbe, daß hier nicht zwischen wahren und unwahren Aussagen zu unterscheiden sei, oder gar einige verurteilt werden dürften, sondern daß wir alle, die Klasse lernen solle, diese zu Tage tretende Mannigfaltigkeit ganz persönlichen Meinens und Glaubens als bereichernde Pluralität und Vielfalt zu bejahen. In höheren Schulklassen ist dann diese Urteilspluralität ein gediegener Anlaß, die individuelle subjektive Bedingtheit jedes persönlichen Urteilens ansichtig zu machen: jeder sähe nur durch seine Brille und so sähe jeder Jesus anders als der andere und nur dogmatisierende Fundamentalisten verstiegen sich dazu, ihrige Sicht als die allein wahre und selig machende zu behaupten, während doch die tiefste Einsicht in das Erkenntnisvermögen des Menschen die sei, daß Niemand wissen könne, was wahr sei. Und darum solle jeder Schüler jede Meinungsäußerung seines Mitschülers tolerieren und auch akzeptieren, daß es nicht die Aufgabe des Religionslehrers sei, nun zu sagen, was wahr und was unwahr sei, sondern auch der Lehrer bringe nur seine ganz persönliche Überzeugung in das Rundgespräch ein, authentisch und unverbindlich. Das pädagogische Lernziel dieser Unterrichtseinheit war ja auch nicht, wie es in vorkonziliaren Zeiten möglich war, zu erkennen, wer Jesus war und ist, sondern zu erkennen, daß diese Frage Jesu unendlich viele persönliche Antwortmöglichkeiten evoziert und daß alle irgendwie gleich wahr sind und daß jede jede andere zu akzeptieren habe als nur individuell gültige. Das Unvermögen, objektiv zu erkennen, wer denn nun wirklich dieser Jesus war und ist, erlaubt die Freiheit des unbegrenzt beliebigen Meinens, was er sei, oder für mich ist und schafft ein
Klima der Beliebigkeit, der postmodernistischen „Any thing goes“ Beliebigkeit, in der jedes Urteil akzeptiert wird. „Seid nett zu einander!“, das ist dann nur der trivial ausgedrückte Fassung des Imperatives: Streite nicht mit Deinem Nächsten über Fragen des Glaubens und der Religion, denn hier ist jeder Glaube gleich wahr und unwahr, weil es keine Möglichkeit zur sachgemäßen objektiven Erkenntnis gibt. Alles ist nur ein Ausdruck individuell persönlicher Vorlieben und Abneigungen.

Aber eine Rechenstunde, in der der Lehrer fragt: „Wieviel ist drei plus sieben?“ und die Schüler munter drauf losen antworten: 5, 6, 4, 7, und dann die Antwort käme, schön, daß ihr so mannigfaltig verschiedene Ergebnisse präsentiert, jeder so ganz spontan und persönlich, niemand wüsse eigentlich das rechte Ergebnis, das mache aber nichts, denn schuldidaktisch sei es schon ein Erfolg, daß jedes Schulkind sich einbrachte in das Unterrichtsgespräch, ist selbst bei ultraorthodoxen Liberalen unvorstellbar. Nicht dominiert im zeitgenössischen Schulbetrieb in allen Fächern der Agnostizismus, die These der Unmöglichkeit adäquater Erkenntnisse, sondern wir haben die Simultanität eines Meeres von exaktem Wissen und eines Reiches, indem alles nur willkürlich beliebiges Meinen ist, in dem jeder Wahrheitsanspruch als hybrischer Abt vermaledeit wird.

Eine Rekonstruktion der Lage des Wissens3 in Hinsicht auf die Vorliebe des liberalen Zeitgeistes für alle Spielarten eines Agnostizismuses muß also Rechenschaft darüber abgeben, warum es uns Heutigen möglich erscheint, zu errechnen, wie viele Sandkörner am Ufer eines Flusses liegen, aber die Frage, ob Gott ist, als unbeantwortbare und unwißbare Frage des Wissens reprobiert. Und so drängt sich die Mutmaßung auf, daß der sinnvolle Hinweis auf die Geburt des Nominalismuses im Spätmittelalter als Ursprung einer nicht realistischen Erkenntnistheorie nicht hinreicht, um diese in sich differenzierte Lage des Wissens zu begreifen.

Es sollen nun ein paar Thesen aufgestellt werden, in denen Vermutungen der Genese dieser jetzigen Situation des Wissens zusammengefasst werden, die so der Leserschaft zur Diskussion präsentiert werden, ohne daß damit der Anspruch erhoben werden soll, so schon das Problem vollständig begriffen zu haben.

Der Krieg, das Erleiden des Krieges genauer gesagt, ließ es als erstrebenswert erscheinen, der Religion wie auch jeder ideologischen Weltanschauung jeden Wahrheitsgeltung abzusprechen um des innerweltlichen Friedens willen. Die Religionskriege des 17. Jahrhundertes, als innerchristliche Konfessionskriege wahrgenommen und die Erfahrung des Weltanschauungskrieges des 20. Jahrhundertes, wahrgenommen als Krieg der Ideen des Kommunismuses und des Nationalsozialismuses evozierten eine Skepsis gegenüber jeder Art von weltanschaulichem Wahrheitsgeltungs-anspruch: „Wie könnte eine erkannte und gewußte Wahrheit neben sich die Nichtwahrheit tolerieren?“ „Kann Wahrheit ein Recht auf den Irrtum bejahen, um einen Weltfrieden zwischen den verschiedensten Wahrheitsansprüchen zu ermöglichen? (Daß diese Frage im 2. Vatikanum in der Debatte um das Verhältnis der Katholisch- Christlichen Religion zu den anderen Verständnissen des Christentumes und den anderen Religionen und dem Atheismus von zentraler Bedeutung war, ist unverkennbar!) Der liberale Agnostiztismus will nun, damit es keine friedensgefährenden Wahrheitsgeltungsansprüche mehr geben kann, alle religiösen und weltanschaulichen Wahrheits-ansprüche als illegitime Verabsolutierungen subjektiven Willkürmeinens delegitimieren. Nicht steht am Anfang eine Erkenntniskritik, sondern der Wille, daß es im Vorstellungsraume der Religion und der Weltanschauungen keine Wahrheitserkenntnisse geben soll, die Anspruch auf objektive universale Gültigkeit erheben. Nur die Erkenntnis, daß keine Religion und keine Weltanschauung objektiv wahr ist, soll als die Wahrheitserkenntnis von allen affirmiert werden. Die Aporie diesesStandpunktes ist unübersehbar: Wie kann erkannt werden, daß alles religiöse und weltanschauliche Wissen kein Wissen ist?4 Die philosophische Aufklärung nach dem großen innerchristlichen Religionskrieg wollte gerade in Deutschland, das am meisten unter diesem Krieg gelitten hatte, den Wahrheits-und Geltungsanspruch der differenten christlichen Kirchen so reduzieren, daß die Glaubensdifferen-zen als irrelevant zu stehen kamen. Nur, um es kantisch zu formulieren, die Vernunftreligion ist wahr und jede über das Vernünftige hinausgehende Glaubenswahrheit ist nur eine subjektiv willkürliche Dekoration dieses in jeder Religion lebenden Vernunftkernes. Die aufklärerische Erkenntniskritik gerade auch in der erfolgreichen Version Kants dient so primär dem Anliegen, den Wahrheitsan-spruch jedes kirchlichen Christentumes zu dysqualifizieren, um die Religion auf wenige Basis-wahrheiten zu reduzieren. Die Erfahrung des 2. Weltkrieges als Weltanschauungskrieg und der Erfahrung des Kalten Krieges als beinahe Selbstvernichtung der Menschheit im Atomkrieg ließ erst den postmodernen Liberalismus zu der zeitgenössischen Haltung avancieren. Der Postmoderniusmus reüssiert, indem er auf die friedensgefährdenden Auswirkungen von weltanschaulichen und religiösen Wahrheits- und Geltungsansprüchen rekurriert, um ein Leben ohne Wahrheit als Leben im Frieden zu proklamieren.

Weil das Idealpaar der Wahrheit und des Friedens als kontradiktorisches Gegensatzpaar gedeutet wird, gilt nun, daß es im Raume der Religion wie in dem der Weltanschauung keine Wahrheit mehr geben darf sondern nur noch individuell subjektiv willkürliche Präferenzen ohne einen Anspruch auf eine überindividuelle Bedeutung. Einfach gesagt: „Ich glaub das so, aber ich billige es jedem zu, es auch ganz anders zu glauben!“ Oder um es an der postmodernistischen Umformung des Luthervotums: „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ es zu verdeutlichen: „Hier stehe ich und könnte auch anders und ich toleriere es, wenn jeder anders votiert als ich!“ Genau dieser Standpunkt ist die spezifische Lauheit des Glaubens unter dem Vorzeichen der Postmoderne. Der Glaube ist nicht heiß, weil er nicht an die allgemeingültige Verbindlichkeit der Glaubenswahrheit glaubt und er ist nicht kalt, weil er den Glauben nicht als Unwahrheit verwirft und der Glaube wird dem Gläubigen auch selbst zu einer lau unverbindlichen Haltung, weil er ihn nur als individuell frei präferierte Vorliebe ansieht. Und gerade darum kann dieser Glaube auch es gut heißen, wenn jeder andere anders wählt und glaubt.

Um des „Seid nett zueinander“ wird so jede Wahrheitsverbindlichkeit im Religiösen wie im Weltanschaulichen als erkenntnistheoretisch nicht legitime Aussage perhorrresziert. Das ist der Kern des postmodernistischen Liberalismuses, der sich darin auch signifikant vom innerkirchlich umkämpften Modernismus des 19. Jahrhundertes unterscheidet in seiner Aufgabe des Strebens nach wahrer Erkenntnis um des Friedens willen. So ist der Wille zur Vermeidung eines Krieges aus Wahrheitsgründen der letzte Grund des zeitgenössischen Agnostizismuses in der Ausgestaltung des Postmodernismuses.

Und dieser Postmodernismus findet seinen adäquaten Ausdruck im Religionsunterricht im Stuhlsitzkreis, in dem jeder, gleich weit entfernt von der unerkennbaren Wahrheit sitzt und seine Meinung einbringt in das Kreisgespräch, das immer weiter kreisend keinen Erkenntnisgewinn kennt außer der Einsicht in die Unsachgemäßheit jeder Meinungsäußerung, da jedes Meinen im Raume der Religion und der Weltanschauung nur ein subjektiv bedingtes Vorstellen ist. Und der Lehrer ist nicht mehr den Schülern Entgegengesetzte, der sie zur Wahrheit führt sondern der Kreismoderator, der für das unendliche Kreisen aller Meinungen sorgt und der jeden Wahrheitsgeltungsanspruch als unerlaubten Fundamentalismus exkommuniziert.

Solange nicht die geschichtlich kontingente Leidenserfahrung, daß Wahrheit auch gefährlich ist, weil eine erkannte Wahrheit das Nein zum Irrtum und zur Lüge in sich einschließt, mitberücksichtigt wird, wird es schwerlich gelingen die Katholisch- Christliche Religion als die wahre Religion zu bewahrheiten, weil gerade das zeitgenössische Ohr keine wahre Religion mehr haben will um des Friedens willen!
Aber Frieden ist nicht der Hauptwert der Moderne, nein, das ist unbestreitbar der Wert der Freiheit.Und es ist wohl das Frappierendste, daß um der Freiheit willen auch der Wert der Wahrheit als erstrebenswertes Ziel in Frage gestellt wird. „Freiheit statt Wahrheit“ könnte so die subkutane Parole zeitgenössischen Denkens heißen. Daß wäre dann der letzte selbst schon wieder metaphysische Grund des Ablehnung aller Wahrheitsansprüche und somit gerade auch der Christlichen Religion.

Stimmte diese Vermutung, würde jede traditionelle Apologetik des Christentumes, die die Wahrheit dieser Religion andemonstriert zum Scheitern verurteilt sein, würde sie nicht als ersten Schritt die Frage Nietzsches diskutieren: „Warum überhaupt nach Wahrheit suchen?“ Jean Paul Sarte kann uns eine Hilfe sein, dieses Problem zu erfassen. In seinem Essay: „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“ in seiner Auseinandersetzung mit der kirkegaardschen Interpretation des Opfers Abrahams konstatiert er: „Ein Engel hat Abraham befohlen, seinen Sohn zu opfern. Alles ist in Ordnung, wenn es wirklich ein Engel ist, der gekommen ist und der gesagt hat: Du bist Abraham, du wirst deinen Sohn opfern.“5 Und kurz darauf: „Wenn eine Stimme sich an mich richtet, so bin ich es immer, der entscheidet, daß diese Stimme die des Engels ist.“ Damit ist gemeint: wüßte Abraham, daß Gott durch den Engel zu ihm spräche, opfere, dann müßte er der Stimme gehorchen, die Erkenntnis, daß da Gott spricht, hebt die Freiheit auf, sich für oder gegen den Gehorsam entscheiden zu können.

Abstrakter formuliert: Ist das Wahre und Gute erkannt, kann der Erkennende sich nicht mehr gegen das als wahr Erkannte entscheiden. Der freie Will folgt der Erkenntnis des Wahren. Wenn also eine Freiheit wieder gewonnen werden soll, muß die Gewißheit des Erkennens in Frage gestellt werden. Ist es ungewiß für Abraham, ob da ein Engel Gottes oder ein Daimon zu ihm spricht, hat er die Freiheit, sich zu entscheiden, ob er glauben will, daß da ein Engel spricht, so daß er der Stimme gehorcht oder daß er urteilt, hier spräche nicht Gott, so daß er nicht zu gehorchen brauche. Unter der Prämisse, daß, wenn das Gute, das Gottgewollte erkannt ist, so dann der Mensch auch nur noch gehorchen kann, kann es nur eine Wahlfreiheit geben, wenn das Gute und Wahre nicht eindeutig erkannt werden kann und jede behauptete Erkenntnis des Wahren, da spräche Gott und fordere, als freie Entscheidung des Menschen aufgelöst wird: Er habe sich frei dazu entschieden, zu glauben, daß da Gott spräche. Hier leuchtet auf einmal die tiefste Furcht des Liberalen vor der Erkenntnis des Wahren auf, es ist die Furcht vor dem Freiheitsverlust. Es ist die Einsicht, daß, wäre die Wahrheit erkennbar, dann so und nicht mehr anders gehandelt werden müßte. Pontius Pilatus könnte, hätte er im Menschen Jesus von Nazareth den Gottessohn erkannt, nicht mehr frei entscheiden, ob er ihn dem Volke ausliefert, um die Volksgunst zu gewinnen oder ob er seinem Gerechtigkeitsempfinden folgt,und den offensichtlich Unschuldigen frei läßt. Die eindeutige Erkenntnis der Wahrheit raubt dem Liberalen seine Freiheit, in Distanz zu allen stehend nur aus sich heraus dies oder das zu präferieren.
Gäbe es eine eindeutig von jedem Menschen als wahr erkennbare Religion, wie könnte dann noch positiv eine Glaubens- und Religionsfreiheit gefordert werden als Grundrecht des Menschen. Sollte es ein Grundrecht auf den Irrtum geben, auf das Recht, bewußt wissend willig die Unwahrheit für sich zu wählen in Gestalt einer eindeutig als falsch erkannten Religion? Die liberale Freiheit erheischt notwendig die Unerkennbarkeit der Wahrheit als Prämisse dafür, daß jeder frei für sich erwählen kann, was ihm als seine Privatwahrheit gelten soll. Und ist die Wahrheit reduziert als das von mir nur für mich Geltende, dann ergibt sich daraus, daß unendliche viele Privatwahrheiten friedlich- lieblich nebeneinander her existieren können, weil kein liberal Denkender verlangen kann, daß seine Privatwahrheit von dem Anderen anerkannt werden muß. Wenn Abbe Roussel definiert: „Der Liberale ist ein Unabhängigkeitsfanatiker; er rühmt die Unabhängigkeit bis zum Absurden“6 dann trifft er damit den Kern dieses Freiheitsverständnisses. Unabhängig ist der Mensch nur, wenn er nicht abhängig ist von etwas. Wenn es etwas Eindeutiges gäbe, wie etwa die Stimme Gottes, die ihm sagt, was wahr und was falsch ist, wie könnte der Hörende da noch sich als unabhängig von der Stimme der Wahrheit behaupten, dem es freistünde, zu wählen, was er zu tun habe. Nur wenn die Stimme nichts Eindeutiges wäre, wenn sie ihre Eindeutigkeit ausschließlich durch meine Entscheidung gewönne,das als Ruf Gottes zu werten, dann wäre der Mensch im liberalen Sinne frei.

Die These, daß das Katholische Christentum nicht im Raume der Vernunft als die wahre Religion erkennbar sei, ja, daß nicht einmal die Wahrheit der Aussage, daß Gott existiert, als wahre der Vernunft einsichtig ist, ermöglicht es erst, Glaubens- und Religionsfreiheit als Grundrecht des Menschen einzuklagen. Denn unter der Prämisse der Nichterkennbarkeit heißt jetzt das Recht der Religionsfreiheit, daß jeder jede beliebige Stimme als Gottes Stimme für sich erwählen und glauben darf. Glauben heißt dann, etwas zum für den Wählenden absoluten Wert zu küren. Und dieses Verständnis des Erwählens schließt jedes kognitive Moment aus: nicht wird etwas als Gott erwählt, weil es als Gott erkannt wurde, sondern es gilt, weil es durch einen rein voluntativen Akt zum Gott erwählt wurde, wird es danach als Gott erkannt. Der reine Willkürvoluntarismus schließt so ein Prä des Erkennens und den Willen als einem dem Erkenntnisalt folgendem danach aus. Gerade deshalb wird hier die klassische scholastische Metaphysik verlassen und folgt man dem spätmittelalterlichem Nominalismus mit seinem Primat des Willens.

Aber die These der Unerkennbarkeit Gottes enthält nun doch eine folgenschwere Aporie. Erinnern wir uns an Platons tiefsinnige Einsicht über die drei Grundaxiome jeder Religion!7 Daß Gott ist, daß Gott sich nicht indifferent zu den Menschen verhält und daß Gottes Gunst nicht leicht zu gewinnen sei. Wird eines dieser drei Axiome bestritten, wird dadurch automatisch die davon betroffene Religion zum Tode verurteilt. Daß die Religion den Tod Gottes nicht überlebt, ist in sich evident. Existiert Gott, gälte aber, daß es Gott gleichgültig ist, wie der Mensch lebt, kann es keine gelebte Religion geben.Nur ein Gott, von dem ausgesagt wird, daß er sich different zum differenten Verhalten der Menschenverhält, ist ein Gott, der es erlaubt, das Religiöse als von Gott Gewolltes vom Nichtreligiösen als dem Nichtgewollten sinnvoll zu unterscheiden. Unter dem Religiösen bzw. Nichtreligiösen sei hier einfach nur verstanden, daß der Mensch Gott verehrt oder nicht verehrt. Ist Gott die Religion aber selbst gleichgültig, ob und wie sie gelebt wird, verliert die Religion ihren theologischen Sinn. Wenn Gott sich nicht indifferent zum Verhalten des Menschen verhält, dann muß der Mensch wissen, was das Gott Gemäße und das Gott Nichtgemäße ist, um überhaupt religiös sinnvoll leben zu können.

Hätte der Agnostizismus Recht und müßte davon ausgegangen werden, daß, wenn es einen Gott gäbe, daß dem Gott dann das menschliche Verhalten nicht gleichgültig wäre, dann wäre die Lage des Menschen hoffnungslos: er müßte religiös sein, könnte es aber nicht, weil er nicht erkennen könnte, was die wahre Religion sei. Aber das wäre dem liberalen Denken eine zu tragische Bestimmung der Situation des Menschen. Der selbst Agnostiker, der sagt, man könne nichts Bestimmtes von Gott aussagen, weiß ganz genau, daß es Gott gleichgültig ist, ob und wie der Mensch von Gott denkt und ob er versucht, gemäß Gott zu leben oder nicht.

Frägt der Lehrer: Und für wen haltet ihr den Jesus? dann ist die Prämisse dieser Frage nicht einfach das Vorurteil, daß letztlich nichts Verbindliches über ihn gewußt werden kann, ob er Gottessohn oder nur ein jüdischer Reformprediger gewesen sei, sondern es wird auch präsumiert, daß es diesem Jesus gleichgültig ist, für wen die Menschen ihn halten und daß es auch keine Folgen für sie hat, ob sie ihn für den Messias oder für einen Rabbi halten. Und so weiß der Agnostizismus einerseits nichts von Gott, weil ihm alle Erkenntnis Gottes eine Verabsolutierung willkürlicher menschlicher Meinungen über Gott ist und andererseits weiß er fast schon fundamentalistisch anmutend, daß Gott ein Gott der Gleichgültigkeit ist. Und das kann entweder sagen, daß Gott als das Göttliche betrachtet entpersona-lisiert sich in keiner Weise als kontingent handelnd zu den Menschen vorgestellt wird oder aber daß gemeint wird, daß er von Natur aus rein natürlich der nur Liebende ist, so daß der Mensch leben kann wie er will, denn nun gilt: Weil Gott immer nur lieben kann, ist dem Menschen alles erlaubt, denn Gott kann nicht aufhören zu lieben, egal wie der Mensch lebt. Das Letztere ist die radicalste Fassung des Gleichgültigkeitsgottes in der dem Menschen liebsten Ausgestaltung. Daran wird deutlich, daß ein Gott, dessen Gunst der Mensch gar nicht verlieren kann, auch automatisch den Tod der Religion hervorruft. Die Aporie ist das völlig ungeklärte Zugleich von Nichtswissenkönnen von Gott und der These, daß man darauf vertrauen dürfe, daß Gott ein Gleichgültigkeitsgott ist, dem es egal ist, ob und wie er verehrt wird. Das Nichtwissenkönnen soll jeden religiösen Wahrheitsgeltungsanspruch dysqualifizieren und die These des indifferenten Gottes soll die Gleichgültigkeit aller Religionen und selbst des Atheismuses begründen. Nur, daß beide Thesen sich wechselseitig destruieren, aber auf keine von ihnen der Liberale verzichtet werden kann, um der liberalen Freiheit willen. So aporetisch so dieser Ansatz in sich selbst ist, so plausibel ist er dem Zeitgenossen, der um des Friedens und der Freiheit willen keine Erkenntnis des Wahren will und der zugleich die Gleichgültigkeit des Wahren als gewisse Erkenntnis will, daß es gewiß sei, daß Gott es gleichgültig sei, ob und wie er verehrt wird, damit er unbeschwert sich in Distanz zu jeder Religion verhalten kann. Aber das so Plausibele ist das Absurde dieser lauen liberalen Existenz.

Jetzt wird auch einsichtig, daß in allen lebenspraktisch relevanten Bereichen auch die enthusiastischten Erkenntniskritiker genau wissen, was wahr und was falsch ist und es auch genau wissen wollen und daß nur in dem Reiche der letzten Fragen im metaphysischen Sinne sie Liebhaber des Skeptizismuses und Agnostizismuses sein wollen, um hier jeder verbindlichen Entscheidung aus dem Wege gehen zu können. Jesus steht vor Pontius Pilatus und ist froh, daß er nicht erkennen kann, ob dieser Mensch die Wahrheit ist oder ob er es nicht ist, weil er so frei nach seinen Interessen mit Jesus umgehen kann, wie er es will. Der Liberale will darin ein wahrer Pilatusnachfolger sein.

Aber was macht der Liberale mit dieser so gewonnenen Freiheit? Pilatus macht sich zum Diener der Volksstimmung; ihm gilt: Vox populi vox Dei. Und das ist auch das Ende liberaler Kirchentheologie: Der Philosoph P. Sloterdijk hat es prägnant auf den Begriff gebracht, indem er konstatiert, daß die (post)moderne Theologie nach den Gesetzen des Marktes produziert wird: gedacht und gelehrt wird, was beim Konsumenten ankommt und die Wahrheit einer theologischen Aussage ist seine Verkaufbarkeit auf dem freien Meinungsmarkt.8 Wahr ist, was gefällt, was ankommt. Damit das zur kirchlichen Praxis werden kann, muß die Vorstellung eines sachgemäßen Bezuges jeder theologischenAussage aufgegeben werden und geglaubt werden, daß Gott jede Gottesaussage gleichgültig ist, so daß nun nur noch das Konsuminteresse zählt. Diese Ausrichtung auf den Markt läßt dann die so lieb gewordene liberale Freiheit wieder untergehen im Meer der Zwänge der Marktgesetze. Fast jedes „Bildungsprogramm“ Katholischer Exerzitienhäuser zeigt den Triumph dieser liberalen Marktfreiheit.Da wird alles angeboten, was gefällt, ganz unfreiwillig dem Marktgesetz der Konsumnachfrage folgend. Und diese Marktausrichtung der Theologie verlangt Theologen, die selbst ein laues Verhältnis zu ihrem eigenen Denken einnehmen: ich denke das so, könnte es aber auch ganz anders denken und respektiere es so, daß jeder in theologischen Fragen so denkt, wie es ihm beliebt.

1 Arnim Mohler: Gegen die Liberalen, in: Liberalenbeschimpfung 1990 S.132.
2 Heinrich R.Robben: Der Mensch steht im Zentrum KU 2/2007 S.15f.
3 Vgl: die im Gewande postmodernen Denkens vorgetragene Kritik der Möglichkeit realistischer sachgemäßer Erkenntnis: J.F. Lyotard: Das postmoderne Wissen 1986
und: J.F.Lyotard. Der Widerstreit 1987.
4 Vgl zum Selbwiderspruch eines erkenntnistheoretischen Skeptizismuses: E.Hirsch
Deutschlands Schicksal 1925 die Kritik Nietzsches S.9-14.
5 J.P. Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? in: Drei Essays 1981 S.16.
6 Zitiert nach: Heinrich R.Robben: Der Mensch steht im Zentrum KU 2/2007 S.16.
7 Platon, Nomoi 885 b Als Auslegung lesenswert: P.Sloterdijk, Sphären II, Der ontologische Kugelbeweis 1999 S.355- 428.

8 Vgl: P.Sloterdijk, H.J.Heinrichs: Die Sonne und der Tod 2001 S.33f.

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