Donnerstag, 9. Oktober 2014

Gescheiterte Aufklärung-Kurzgeschichten

Geschichten über gescheiterte Aufklärung

Auf die Perspektive kommt es an

Ein kalter verregneter Herbsttag, grau in grau- aber da leuchtet ein Laternchen, getragen von einem Schäflein und sein kleines Brüderchen folgt ihm: „Sind wir denn wirklich auf dem rechten Weg?“Sorgenvoll, verängstigt; denn so weit hatten die Beiden sich noch nie von ihrer Herde entfernt- allein auf sich gestellt. Aber die Stimme des großen Bruderschafes beruhigt: „Ich habe die Wahrheit erfaßt! Ja, unser Vater, der erzählte und erzählt uns immer wieder diese eine Geschichte, die vom Wolf, der nichts mehr liebt als frisches Schafsfleisch. Hüte dich, die Herde zu verlassen, denn uns begleitet der Wolf- er will eines von uns. Nur in der Herde ist Frieden und Sicherheit.Die uns verließen, sie wurden alle zum Fraß des Wolfes!“Aber nun ging mir das Licht auf. „Höre nochmal: meine Entdeckung: Es gibt den Wolf nicht. Das ist die tiefste Erkenntnis jedes Schafes, der seinen Verstand zum selbstständigen Denken zu gebrauchen weiß.“ O, nun erfolgte eine große philosophische Erörterung, die wie alle andere Erzählungen des Bruders den kleinen Bruder überforderte: wäre ich doch nur so klug wie mein Bruder.

„Schau- Gott schuf die Welt und weil er gut ist, schuf er eine gute Welt. Kann es in einer guten Welt ein so böses Tier wie den Wolf geben? Mitnichten! Aber die Alten, sie reden doch Tags und Nachts von diesem schauderhaften Tier! Ja, aber nur, um uns zu verängstigen und zu gehorsamen Schafen zu machen.Sie beherrschen uns durch unsere Angst vor dem Wolf. Nur, wenn wir diese Angst überwinden, werden wir frei sein. Willst du frei sein?- dann höre auf, auf die Alten zu hören.Und so schritten sie weiter voran, bis zum nächsten Halt: „Sind wir denn wirklich auf dem rechten Weg?“ Geduldig wiederholt da das illuminierte Schaf seine Aufklärungslexion. Schwer fällt es den Kleinkopferten, diesen großen Gedanken zu erfassen: den Wolf, den gibt es nicht. Aber die Botschaft wächst in ihm.

„Da heult ein Wolf!“, verzagt der kleine Bruder, um dann aber frohgemutet sich selbst zu korrigieren: nein, das ist nur meine Einbildung. Nur ein kleiner Zweifel bleibt, aber den weiß das Verstandesschaf auch noch aufzulösen- würde das Geheul nicht von Minute zu Minute anwachsen, gerade jetzt, wo das Mondlicht die Welt in sein kaltfahles Licht tünkt.

„Hier bin ich!“ „Ich stehe vor euch- ihr Schafe- Und was höre ich da euch erzählen? Mich gäbe es nicht?“ „O, Wolf, ja dich gibt es nicht“, doziert sofort unser illuminiertes Schäflein selbstbewußt. „Denn höre: in der von einem guten Welt geschaffenen Welt kann es dich nicht geben!“ „Aber ich bin doch da!“ „Aber nicht so, wie du dich denkst. Du bist wie alle guten Tiere ein Vegetarier- und böse Fleischfressen gibt es nicht.“ „Mein liebes Schaf: ein guter Gott schuf diese Welt, das weiß ich wohl von Kindesbeinen an und drum setze er in diese Welt Schafe, damit ich immer gut zu essen habe.“ Sprachs und fraß die Schafe. „O mein Gott, wären doch alle Schafe so aufgeklärt wie diese Beiden.“

Ein Hüter mit Orientierungsproblemen

Das saß der betagte Schäfer vor seinem Schafststal, seine junge Tochter, sie studierte just in der nahe gelegenen großen Stadt und war auf Winterurlaub bei ihm. Ach, Väterchen, bei euch, da ist doch noch alles so rückständig provinziell- nur in der Stadt, da ist Leben-ihre Augen leuchteten auf . Der Vater nickte verständnisvoll- zog es doch auch ihn einst in die Provinzhauptstadt.

Da kam ein kleines Wölflein daher, es fiel und purzelte über seine kleinen Stummelbeinchens, so klein und süß. O sieh nur Vater: ein Wolfsbaby- wie süß. Des Vaters Gesicht ergrimmte und seine Hand umfaßte den Stil der Axt: kurzen Prozeß machen mit diesem Räuber. Da erhob das Wölflein sein Stimmchen: o liebe Tochter, o geehrter Herr Vater. Ein Waisenkind bin ich- man nahm mir Mutter und den Vater und alle Geschwister- nur ich blieb übrig. Durstig und hungrig durchwandere ich nun den tiefen Wald, ob ich was zu trinken fände. Der Durst quält mich so. O dürfte ich doch eine Schafsmilch trinken. Die Tochter: o ja, Milch und Speis hätten wir für dich und auch ein warmes Nachtquartier. Der Vater entsetzt: Das sei ferne!

Lieber Vater, laß dir sagen, daß Du noch hinterm Monde lebst. Ich habe studiert und bin aufgeklärt.Die Mär vom Wolf, das Schafe frißt und ihr Blut säuft, das ist eine Greuelgeschichte aus den Zeiten, wo die Erde noch eine Scheibe war und man noch an den Teufel glaubte. O Vater, sei nicht so rückständig. Das lerntest du auf der hohen Schule der Aufklärung?Ja, sprach da der Wolf, deine Tochter ist klug- sie hat sich frei gemacht von den Vorurteilen tiefsten Mittelalters. So, wie deine Tochter es sagt, so doziert man heuer überall. Ja, es gibt immer noch intolerante Schafe, die einen Wolf nicht in ihrer Herde dulden- das sind die schwarzen Schafe, die Rassisten unter ihnen. Sie verurteilen meines gleichen nur auf Basis von abscheulichen Vorurteilen.Ja, Vater, lebe vorurteilsfrei, stimmte die Tochter in das hohe Lied der Toleranz des Wölfleins ein. Und verliebt schaute sie auf das entkräftete Wölflein. „Vater, gewähre ihm Asyl in dem Schafstal und gebe ihm täglich Milch und Honig, auf daß er wachse und groß wird. So tat es der Vater und stolz fuhr die Tochter heim in die große Stadt mit ihrer Universität. Übers Studieren vergaß sie den Vater fast, aber im Sommer da packte sie ihre Sachen zum Wochenendausflug ins väterliche Dorf.

O, welch ein Bild des Grauens: der Schaftstal. Zerrissen lagen die Tiere da, tot und mitten unter ihnen der tote Vater- die Stalltür offen -der Wolf fort-ein Abschiedsgruß, das war alles, was blieb von ihm: Dank für die gute Verköstigung- denke daran: Wölfe sind liebe Tiere, die nur Gutes wollen, euer Schafsblut und euer Schafsfleisch.



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