Geschichten über
gescheiterte Aufklärung
Auf die Perspektive kommt
es an
Ein kalter verregneter
Herbsttag, grau in grau- aber da leuchtet ein Laternchen, getragen
von einem Schäflein und sein kleines Brüderchen folgt ihm: „Sind
wir denn wirklich auf dem rechten Weg?“Sorgenvoll, verängstigt;
denn so weit hatten die Beiden sich noch nie von ihrer Herde
entfernt- allein auf sich gestellt. Aber die Stimme des großen
Bruderschafes beruhigt: „Ich habe die Wahrheit erfaßt! Ja, unser
Vater, der erzählte und erzählt uns immer wieder diese eine
Geschichte, die vom Wolf, der nichts mehr liebt als frisches
Schafsfleisch. Hüte dich, die Herde zu verlassen, denn uns begleitet
der Wolf- er will eines von uns. Nur in der Herde ist Frieden und
Sicherheit.Die uns verließen, sie wurden alle zum Fraß des
Wolfes!“Aber nun ging mir das Licht auf. „Höre nochmal: meine
Entdeckung: Es gibt den Wolf nicht. Das ist die tiefste Erkenntnis
jedes Schafes, der seinen Verstand zum selbstständigen Denken zu
gebrauchen weiß.“ O, nun erfolgte eine große philosophische
Erörterung, die wie alle andere Erzählungen des Bruders den kleinen
Bruder überforderte: wäre ich doch nur so klug wie mein Bruder.
„Schau- Gott schuf die
Welt und weil er gut ist, schuf er eine gute Welt. Kann es in einer
guten Welt ein so böses Tier wie den Wolf geben? Mitnichten! Aber
die Alten, sie reden doch Tags und Nachts von diesem schauderhaften
Tier! Ja, aber nur, um uns zu verängstigen und zu gehorsamen Schafen
zu machen.Sie beherrschen uns durch unsere Angst vor dem Wolf. Nur,
wenn wir diese Angst überwinden, werden wir frei sein. Willst du
frei sein?- dann höre auf, auf die Alten zu hören.Und so schritten
sie weiter voran, bis zum nächsten Halt: „Sind wir denn wirklich
auf dem rechten Weg?“ Geduldig wiederholt da das illuminierte Schaf
seine Aufklärungslexion. Schwer fällt es den Kleinkopferten, diesen
großen Gedanken zu erfassen: den Wolf, den gibt es nicht. Aber die
Botschaft wächst in ihm.
„Da heult ein Wolf!“,
verzagt der kleine Bruder, um dann aber frohgemutet sich selbst zu
korrigieren: nein, das ist nur meine Einbildung. Nur ein kleiner
Zweifel bleibt, aber den weiß das Verstandesschaf auch noch
aufzulösen- würde das Geheul nicht von Minute zu Minute anwachsen,
gerade jetzt, wo das Mondlicht die Welt in sein kaltfahles Licht
tünkt.
„Hier bin ich!“ „Ich
stehe vor euch- ihr Schafe- Und was höre ich da euch erzählen? Mich
gäbe es nicht?“ „O, Wolf, ja dich gibt es nicht“, doziert
sofort unser illuminiertes Schäflein selbstbewußt. „Denn höre:
in der von einem guten Welt geschaffenen Welt kann es dich nicht
geben!“ „Aber ich bin doch da!“ „Aber nicht so, wie du dich
denkst. Du bist wie alle guten Tiere ein Vegetarier- und böse
Fleischfressen gibt es nicht.“ „Mein liebes Schaf: ein guter Gott
schuf diese Welt, das weiß ich wohl von Kindesbeinen an und drum
setze er in diese Welt Schafe, damit ich immer gut zu essen habe.“
Sprachs und fraß die Schafe. „O mein Gott, wären doch alle Schafe
so aufgeklärt wie diese Beiden.“
Ein Hüter
mit Orientierungsproblemen
Das saß der betagte
Schäfer vor seinem Schafststal, seine junge Tochter, sie studierte
just in der nahe gelegenen großen Stadt und war auf Winterurlaub bei
ihm. Ach, Väterchen, bei euch, da ist doch noch alles so rückständig
provinziell- nur in der Stadt, da ist Leben-ihre Augen leuchteten auf
. Der Vater nickte verständnisvoll- zog es doch auch ihn einst in
die Provinzhauptstadt.
Da kam ein kleines
Wölflein daher, es fiel und purzelte über seine kleinen
Stummelbeinchens, so klein und süß. O sieh nur Vater: ein
Wolfsbaby- wie süß. Des Vaters Gesicht ergrimmte und seine Hand
umfaßte den Stil der Axt: kurzen Prozeß machen mit diesem Räuber.
Da erhob das Wölflein sein Stimmchen: o liebe Tochter, o geehrter
Herr Vater. Ein Waisenkind bin ich- man nahm mir Mutter und den Vater
und alle Geschwister- nur ich blieb übrig. Durstig und hungrig
durchwandere ich nun den tiefen Wald, ob ich was zu trinken fände.
Der Durst quält mich so. O dürfte ich doch eine Schafsmilch
trinken. Die Tochter: o ja, Milch und Speis hätten wir für dich und
auch ein warmes Nachtquartier. Der Vater entsetzt: Das sei ferne!
Lieber Vater, laß dir
sagen, daß Du noch hinterm Monde lebst. Ich habe studiert und bin
aufgeklärt.Die Mär vom Wolf, das Schafe frißt und ihr Blut säuft,
das ist eine Greuelgeschichte aus den Zeiten, wo die Erde noch eine
Scheibe war und man noch an den Teufel glaubte. O Vater, sei nicht so
rückständig. Das lerntest du auf der hohen Schule der
Aufklärung?Ja, sprach da der Wolf, deine Tochter ist klug- sie hat
sich frei gemacht von den Vorurteilen tiefsten Mittelalters. So, wie
deine Tochter es sagt, so doziert man heuer überall. Ja, es gibt
immer noch intolerante Schafe, die einen Wolf nicht in ihrer Herde
dulden- das sind die schwarzen Schafe, die Rassisten unter ihnen. Sie
verurteilen meines gleichen nur auf Basis von abscheulichen
Vorurteilen.Ja, Vater, lebe vorurteilsfrei, stimmte die Tochter in
das hohe Lied der Toleranz des Wölfleins ein. Und verliebt schaute
sie auf das entkräftete Wölflein. „Vater, gewähre ihm Asyl in
dem Schafstal und gebe ihm täglich Milch und Honig, auf daß er
wachse und groß wird. So tat es der Vater und stolz fuhr die Tochter
heim in die große Stadt mit ihrer Universität. Übers Studieren
vergaß sie den Vater fast, aber im Sommer da packte sie ihre Sachen
zum Wochenendausflug ins väterliche Dorf.
O, welch ein Bild des
Grauens: der Schaftstal. Zerrissen lagen die Tiere da, tot und mitten
unter ihnen der tote Vater- die Stalltür offen -der Wolf fort-ein
Abschiedsgruß, das war alles, was blieb von ihm: Dank für die gute
Verköstigung- denke daran: Wölfe sind liebe Tiere, die nur Gutes
wollen, euer Schafsblut und euer Schafsfleisch.
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