Montag, 10. August 2020

Anarchochristen- eine Spurensuche

Selbstverständlich ist dies ein polemischer Begriff, aber wo steht geschrieben, daß es für die ecclesia militans (= die kämpfende Kirche, die auf Erden und noch nicht im Himmel sich befindenden) kämpferische Begriffe unerlaubt seien? Erst seit dem die Vorstellung vom „wandernden Gottesvolk“ diesen Begriff ersetzt hat, als wäre das Erdendasein der Kirche ein lieblicher Picknickausflug, ist ja uns das Verständis fürs Kämpfenmüssen verloren gegangen.

Jetzt steht da dieser polemische Begriff, der nun mit Inhalten gefüllt sein will, damit er uns zu einem lebendigen Begriff wird. Ich skizziere nun einige Fälle, die unter diesen Begriff subsumierbar sind:

Ein Extrembeispiel: Ein Mann liegt im Sterben, die Ärzte erwarten in Bälde seinen Tod. Aber er hat noch gesunde Organe, die jetzt herausnehmbar transplantiert werden könnten. Im selben Spital liegt auch ein anderer Patient, der nicht mehr lange zu leben hat. Wenn die Ärzte nun dem ersten zum Überleben notwendige Organe entnehmen würden, sobald der Gehirntod diagnostiziert wurde, und sie dem Anderen implantierten, dann hätte diese gute Chancen zum Weiterleben.

Wie beurteilen nun einige, oft sich als „fromm“ verstehende Christen? Wenn ein Gehirntod diagnostiziert wird, ist nur das Gehirn tot aber noch nicht alle Organe. So könnte der Ganztod des Sterbenden dann durch die Entnahme von lebenswichtigen Organen bewirkt werden und darum dürfen sie erst entnommen werden, wenn der Mensch ganz tot ist und somit auch all seine Organe. Dann kann man sie aber nicht mehr zum Nutzen anderer implantieren. So verlange der Glaube, daß der Sterbende die Entnahme von lebensnotwendigen Organen ablehnt, er dann stirbt und der Mitmensch dann auch, weil für diesen keine implantierbaren Ersatzorgane vorhanden waren. Das sei christlich geboten! Es gälte also, unbedingt bis zur letzten Lebenszuckung am eigenen Leben festzuhalten, auch wenn deshalb andere sterben müssen. Unzumutbar ist die Vorstellung des Opfers des eigenen Lebens zugunsten des Lebens von Mitmenschen. Und das gälte auch, wenn es sich nur noch um wenige Lebensmomente handelt, die zwischen dem Gehirntod und dem des Ganztodes.

Fundiert ist diese Lebenseinstellung in dem Grundsatz, daß jeder sich selbst das Wichtigste ist, und daß es nichts gibt, für das man sich zugunsten von anderen einschränken wolle, es sei denn, das nütze auch dem Sicheinschränkenden selbst. Diese Selbstverabsolutierung zum Nachteil der Mitmenschen, das sei als anarchistisches Grundprinzip verstanden. Es gibt nur mich, nur ich zähle.



Szenenwechsel

Irgendwo in Deutschland wird einem letztinstanzlich abgelehnten Asylbewerber ein sogenanntes „Kirchenasyl“ gewährt. Mit welchem Recht. Das Aner-kennungsverfahren ist doch in letzter Instanz zu dem Ergebnis gekommen, daß dieser Antrag auf Asyl nicht angenommen werden kann. (Man möge sich dies mal vorstellen: Ein Mörder würde zu lebenslanger Haft verurteilt und eine Kirchengemeinde nähme den Verurteilten auf, gäbe ihm „Asyl“, sodaß er nicht seine Haftstrafe antritt, mit der Begründung, die Gemeinde meine, er sei zu unrecht verurteilt! Mit welchem Recht? Einfach mit dem der Meinung, daß hier falsch geurteilt worden sei. Die Gemeinde könne eben diesen Mordfall besser beurteilen als ein weltliches Gericht. Das ist so absurd, das würde kein vernünftiger Mensch akzeptieren.)

Aber wenn es um abgelehnte Asylanten geht, dann soll das plötzlich legitim sein? Es ist offenkundig, daß hier ein rechtskräftiges Urteil, daß nach geltendem Gesetz ein Asylantrag abgelehnt wurde, im Widerspruch steht zu dem rein moralischen Urteil der Gemeinde, daß diesem Asylanten sein Wunsch nach einem dauerhaften Aufenthalt nachzukommen sei. Im Namen dieses Moralurteiles habe der Staat auf sein Rechtsurteil dann zu verzichten, Diese Verabsolutierung des eigenen Moralurteiles, das ist genau das anarchische Grundprinzip dieser Haltung. Das ist die christliche Hypermoral, (Arnold Gehlen) die sich gerade in der Praxis des Kirchenasyles auslebt.



Letztes Beispiel

Angesichts der Coronaseuche verlangte der Staat von all seinen Bürgern, eine deutliche Einschränkung seiner Freiheitsrechte hinzunehmen. Da das Allgemeinwohl dem des Individualwohles übergeordnet ist, ist das prinzipiell legitim. Ernst von Salomon verdanken wir (in seinem Roman: Der Fragebogen) eine sehr gediegene Explikation der Frage, was es heißt, sich zu einer Staatsbürgerschaft zu bekennen: Wenn ich sage, diesem Staate anzugehören, dann sage ich damit aus, für wen ich im Ernstfalle des Krieges zu töten und zu sterben bereit bin. Ernstfälle verlangen von allen die Opferbereitschaft um des Allgemeinwohl willens. Und das ist auch zutiefst christlich, denn Jesus Christus hat ja selbst sein eigenes Leben am Kreuze geopfert, um die Vielen zu retten. Aber ganz anders agieren nun manche „frommen“ Christen, auch und gerade im offenen Widerspruch zu ihren Bischöfen, die zum Gehorsam aufriefen.

Erstmal maßt man sich da an, besser über diese Seuche Bescheid zu wissen als die Regierung (kraft göttlicher Eingebung?): Warum dann gehorchen? Es sei unzumutbar, daß wir Christen die Einschränkungen unserer Freiheitsrechten akzeptieren, die alle anderen Staatsbürger zu akzeptieren haben. Denn wenn wir zu unseren Versammlungen gehen wollen, dann muß der Staat das erlauben, auch wenn er allen anderen um der Seuchenansteckungsgefahr willen das Sichversammeln untersagen darf: „Keine Rudelbildung“ hieß halt die staatliche Parole, aber das dürfe nicht für christliche Versammlungen gelten! Das allgemeine Versammlungsrecht, das eben auch für Notfälle ein Untersagen des Sichversammelns erlaubt, gälte eben für uns Christen nicht. Warum nicht? Das anarchistische Grundprinzip lautet eben, daß der Staat- auch nicht im Namen des Allgemeinwohles- MEINE Freiheitsrechte einschränken darf, die anderer schon, aber nicht die MEINIGEN.

Aber es gäbe doch ein Grundrecht auf freie Religionsausübung! Sicher, aber jedes Grundrecht darf der Staat auch um des Gemeinwohl willens einschränken. Unser Staat ist eben kein Nachtwächterstaat. (Für die Bedeutung des Notstandes, des Ausnahmezustandes sei hier wegweisend auf Carl Schmitt verwiesen.)

Die Ausübung der Religionsfreiheit wäre nur dann nicht hinnehmbar beeinträchtigt, hätte der Staat wirklich die Gottesdienste verboten. Das tat er aber nicht. Er verbot nur das Sichversammeln in den Kirchen. So konnte jeder Christ per Medien an den gehaltenen Gottesdiensten teilnehmen und so ist das Verbot öffentlich gefeierter Messen eine akzeptable Einschränkung gewesen.(Bei der Beurteilung dieser Verbotsmaßnahme ist zudem zu berücksichtigen, daß 91 Prozent der Katholiken und 97 Prozent der Evangelischen Sonntag für Sonntag nicht zum Gottesdienst gehen- sie demonstrieren unübersehbar für den Staat, daß Gottesdienste für die überwältigende Mehrheit der Christen überflüssig sind. Das zu berücksichtigen, kann nun niemand dem Staate wirklich verübeln. )

Aber all das interessiert einen Anarchochristen nicht: Er sieht nur SEIN Recht, sonst nichts und dann will er gar dem Staate, das ihm eigene Recht, die Ausübung von Grundrechten einzuschränken, absprechen,nur weil er sich nicht einschränken lassen will. 

 

Corollarium 1

Den ideengeschichtlichen Hintergrund dafür bildet eine unangemessene Vorstellung vom Menschen, daß er rein atomistisch betrachtet wird und so verkannt wird, daß jeder Einzelne eine komplexe Individuierung des Menschseins ist, und er so nur ist als Partizipierender an etwas im Vorausgehendes und Größerem , der Menschheit, eines bestimmten Volksseins wie auch Geschlechtseins. Dieses ontologische Sein der Indiviuumes moralphilosophisch nicht zu berücksichtigen bringt dann Anthropologien hervor, die das Sein des Menschen verkennen.  

 

1 Kommentar:

  1. Sorry mal zu Punkt 1, wenn man hirntot ist, also demnächst tot, kann man nichts mehr opfern, weil man kein Bewusstsein mehr hat.Ich finde man kann durchaus über Organspende diskutieren, aber der Begriff ist irreführend, weil das Narrativ so geht: "der eine, der Spender hat ja eh nichts mehr von seinen Organen, weil er eben demnächst tot ist, aber beim anderen, dem Empfänger, ist die einzige Möglichkeit zu leben, von dem "Spender" das und das Organ zu bekommen!
    Ich vermute mal dass dieser Fall ausgesprochen selten ist und wie würden wir denn argumentieren, wenn einer bei vollem Bewusstsein, weil er einfach keine Lust mehr zu leben hat, sein Herz spenden würde!
    Wäre er dann ein guter Mensch, weil er das eigene Leben zugunsten eines ihm unbekannten anderen Menschen opfert?
    Oder würden wir sagen "er wirft sein Leben weg?"
    ZU den Gottesdiensten ist zu sagen, die waren selbst dann noch verboten als die Kneipen schon längst wieder offen waren und gerade weil die Zahl der Gottesdienstbesucher so gering war und ist, wäre das alles doch überhaupt kein Problem gewesen, hier Möglichkeiten zu organisieren.
    Weiter gab es, wenn ich mich nicht täusche, jahrhundertelang den Brauch des Klosterasyls, dass ein Mörder z.B dadurch dass er Mönch wurde sich dem weltlichen Gericht entziehen konnte.
    Bitte man kann alles diskutieren, aber bitte bei den Fakten bleiben!

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